Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Medizin 177<br />
ihrer selbstgeleiteten Gemeinschaft signifikant länger ohne Rückfall<br />
außerhalb der Klinik blieben, sie signifikant häufiger und länger<br />
arbeitsfähig waren und es zu einer „Identitätsstabilisierung" kam.<br />
Besonders <strong>für</strong> die sog. Chronisch Kranken, deren Chance, eine herkömmliche<br />
Klinik überhaupt noch einmal verlassen zu können, minimal<br />
ist, brachte die geschilderte Gemeinschaft die größten Erfolge.<br />
Im Vergleich zu einer weiteren Kontrollgruppe konnte auch abgesichert<br />
werden, daß diese Befunde nicht das Resultat einer Patienten-<br />
Selektion waren.<br />
Es ist besonders <strong>für</strong> die psychiatrische Therapie immer wieder die<br />
Frage zu stellen, inwieweit sie nicht nur unreflektierte Anpassung<br />
an krankmachende Verhältnisse darstellt und somit auch nur auf<br />
kurzfristige Erfolge rechnen kann. Eine solche Fragestellung wird<br />
allerdings — wie auch im vorliegenden Fall — von fast allen Autoren<br />
psychiatrischer Literatur umgangen. Dies ist hier aber besonders<br />
erwähnenswert, weil die empirischen Befunde eigentlich eine solche<br />
Fragestellung provozieren. Es zeigte sich nämlich, daß der therapeutische<br />
Erfolg dieses Projektes nur so lange anhielt, solange die<br />
Mitglieder der Gemeinschaft in dieser blieben; verließen sie die Gemeinschaft,<br />
so waren ihre prognostischen Chancen wieder genauso<br />
schlecht, wie die des auf üblichem Wege Entlassenen. Erfolg war also<br />
nur in einer Exklave, der „Subsociety" — wie es die Autoren nennen<br />
— möglich.<br />
Ein solcher Befund gibt den Autoren nicht zu denken, vielmehr<br />
bieten sie die Ergebnisse ihres Projektes in dem Schlußkapitel<br />
„Changing the Social Status of Marginal Man" als Lösungsansatz <strong>für</strong><br />
die Integrierung von „Randgruppen" an. Die Neger, die Depravierten,<br />
die Arbeitslosen etc. müssen „ein Bewußtsein von ihrem Wert<br />
bekommen, um sich mit ihrer Gesellschaft zu identifizieren" (338).<br />
„Es ist offensichtlich geworden, daß es nur durch das Gefühl der Mitbeteiligung<br />
an der Gesellschaft und durch das Gefühl der Zusammenarbeit<br />
mit denen in der Gesellschaft, zu denen man auch Kontakt hat,<br />
möglich ist, daß sich Personen echt mit ihrer Gesellschaft identifizieren<br />
und zu Trägern und nicht zu bewußten oder unbewußten Zerstörern<br />
dieser Gesellschaft werden" (338). Daß es hier um das Gefühl<br />
der Mitbeteiligung und der Zusammenarbeit geht, verrät — ungewollt<br />
— sowohl die Möglichkeiten in einer kapitalistischen Gesellschaft<br />
als auch die politische Stellung der Autoren. Diese wissenschaftliche<br />
und politische Stellung ist so abgesichert, daß noch nicht<br />
einmal die eigenen Überlegungen, nach denen das Heer der „Randgruppen"<br />
— wie es die Autoren nennen — sicherlich mit der industriellen<br />
Entwicklung weiter zunehmen wird, Anlaß <strong>für</strong> einen Versuch<br />
der Analyse des Systems geben, in dem die „industrielle Entwicklung"<br />
stattfindet.<br />
So deutet das vorliegende Buch exemplarisch an, was man von<br />
„amerikanischer" Medizinsoziologie zu erwarten hat: selbst dort, wo<br />
vom Phänomen her Richtiges gesehen wird, wird mit systematischer<br />
Beharrlichkeit die Analyse des Systems, dessen Auswirkungen man