Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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40 Rainer Seidel<br />
heitsverhalten 75 . Duff & Hollingshead (1968) stellten in einer gründlichen<br />
Untersuchung eines angesehenen Krankenhauses in den USA<br />
u. a. fest, daß die ärmeren Patienten meist deutlich schwerer erkrankt<br />
waren, wenn sie ins Krankenhaus kamen, als die finanziell besser<br />
gestellten Patienten 7S . Diese Ergebnisse aus der allgemeinen Medizin<br />
gelten noch verstärkt <strong>für</strong> den Bereich der Psychiatrie, wo gewisse<br />
soziale Variablen wie Vorurteile oder die soziale Distanz zwischen<br />
Arzt und Patient noch eine größere Rolle spielen dürften. Hier haben<br />
mehrere Untersuchungen klar gezeigt, daß nicht nur die Erkrankungsraten,<br />
sondern auch die psychiatrische Behandlung schichtspezifisch<br />
verteilt sind. Demzufolge erzielen z. B. Angehörige der<br />
höheren sozialen Schichten bessere Behandlungsergebnisse 77 .<br />
In den kapitalistischen Ländern wurden mehrfach Forschungen<br />
über Vorurteile gegenüber Geisteskranken und der Psychiatrie angestellt.<br />
Sie sollen u. a. dazu dienen, solche Vorurteile abzubauen.<br />
Nun ist psychohygienische Aufklärung sicher begrüßenswert, aber<br />
ihre präventive Funktion hängt auch ab von der allgemeinen Situation<br />
der Psychiatrie. In Ländern mit einer völlig unzureichenden<br />
psychiatrischen Versorgung, wie z. B. in den USA oder auch in der<br />
BRD, haben gewisse Vorurteile leider eine allzu reale Grundlage:<br />
hier ist es zwar nicht absolut richtig, aber doch sehr begründet, wenn<br />
der Laie annimmt, daß, wer einmal geisteskrank ist, <strong>für</strong> immer hinter<br />
den Mauern einer geheimnisvollen Anstalt verschwindet oder nicht<br />
mehr zu seiner alten Leistungsfähigkeit zurückkehren wird. Man<br />
muß leider annehmen, daß ohne die Existenz einer auf die Lebensbedingungen<br />
orientierte psychiatrische Versorgung alle Versuche<br />
einer präventiv wirkenden Aufklärungsarbeit ins Leere gehen. In<br />
diesem Licht sollte auch der bekannte Fehlschlag des Programms<br />
von Cumming & Cumming (1957) gesehen werden. Die Autoren führten<br />
in zwei Kleinstädten in Kanada ein umfangreiches Aufklärungsprogramm<br />
zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Geisteskranken<br />
durch, wobei alle verfügbaren Medien eingesetzt wurden. Obwohl<br />
über die Hälfte der Bevölkerung von den Bemühungen erreicht worden<br />
war, zeigten sich in der nachfolgenden Befragung keinerlei<br />
Erfolge.<br />
Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen der allgemeinmedizinischen<br />
Betreuung. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen finden<br />
in der SU statt in den Betrieben, in der Schule, <strong>für</strong> schwangere<br />
Frauen. Die präventive Bedeutung solcher umfassender Maßnahmen<br />
auch <strong>für</strong> die psychischen Erkrankungen braucht nicht besonders<br />
herausgestellt zu werden.<br />
Präventive Absicht. Prävention ist das erklärte Ziel der sowjetischen<br />
Medizin und auch der Psychiatrie. Die explizite Orientierung<br />
auf Prävention wird sowohl von sowjetischen Autoren betont als<br />
75 Rosenstock 1969, S. 172/173.<br />
76 Duff & Hollingshead 1968, S. 151 u.a.; <strong>für</strong> Untersuchungen im<br />
deutschsprachigen Bereich ist auf Pflanz et al. 1966 zu verweisen.<br />
77 z. B. Myers & Bean 1968, S. 63.