Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Krankheitsverhalten bei psychischen Störungen 93<br />
scher Störungen, etwa hypochondrische Einstellungen, führen bekanntlich<br />
in ebenso inadäquat anmutender Weise verstärkt zum<br />
Arzt. Es lassen sich also innerhalb der arztmeidenden Gesamttendenz<br />
bei psychisch Kranken spezielle arztaffine von arztaversen<br />
Verhaltensweisen unterscheiden. Zwischen diesen Extremen ist ein<br />
ambivalenter arztneutraler Bereich zu erwarten. Averses und affines<br />
Krankenverhalten wird in erheblichem Maß durch die Art der Versorgung<br />
mitbestimmt. Ich beschränke mich hier zunächst auf eine<br />
Seite der Interaktion: den Kranken.<br />
Arztaversität und Arztaffinität lassen sich betrachten:<br />
— nach individuellen Krankheitsformen (gènauer: nach individuell<br />
sichtbaren Verarbeitungsweisen pathologischer Konflikte);<br />
— nach überindividuellen gruppen- und familiendynamischen Einflüssen<br />
(Gruppenverarbeitung pathologischer Konflikte);<br />
— und nach sozialen Gruppen.<br />
Diese Einteilungen hängen natürlich untereinander zusammen.<br />
Pathologische Konflikte und gruppendynamische Interaktionen werden<br />
von der sozialen Situation mitbestimmt (vgl. Hollingshead, Redlich<br />
1958).<br />
Unter dem Aspekt individueller Krankheitsformen dürften zu den<br />
arztaversen Störungen nach eigenen Untersuchungen eine Reihe von<br />
Elternkonflikten gehören (Moeller, Scheer 1970). Die Störung überträgt<br />
sich auf die Beziehung zum Arzt, der als Konfliktfigur gemieden<br />
wird. Untersuchungen von Kasl und Cobb (1964) lassen erwarten,<br />
daß die Stärke der Abwehr den Grad der Arztaversität mitbestimmt.<br />
Konflikte, die sich um starke Auslieferungsängste zentrieren; Autoritätskonflikte;<br />
Konflikte, die um aggressive Themen kreisen oder<br />
leicht zur unbewußten Kränkung führen, dürften zu den arztaversen<br />
Störungen im engeren Sinne gehören. Schließlich gehören<br />
dazu Konfliktverarbeitungen, die in einer starken masochistischen<br />
Tendenz resultieren und den Leidenszustand bewahren wollen. Allen<br />
gemeinsam ist eine starke bewußte oder unbewußte (abgewehrte)<br />
Angst vor dem Arzt. Sie wird als Geringschätzung der Ärzte, als<br />
Gleichgültigkeit oder in Vorwänden unterschiedlich verarbeitet.<br />
Die arztaffinen Störungen sind eher an die Versorgung angepaßt.<br />
Psychische Störungen, die zu stark anklammernden und haltsuchenden<br />
Einstellungen führen, wie bei speziellen Formen der Depressivität<br />
und Ich-Schwäche gehören hierzu (vgl. Kasl und Cobb 1964),<br />
ebenso einige hypochondrische Einstellungen. Arztaffinität spiegelt<br />
sich auch in Erwartungen und Selbstdarstellungen der Patienten<br />
(vgl. Plaum 1968, insbesondere Typ I; vgl. auch Beckmann 19<strong>71</strong>).<br />
Zahlreiche somatisierte psychische Störungen sind deswegen arztaffin,<br />
weil die Körpererkrankung von der Gesellschaft eher akzeptiert<br />
und unserer Medizin eher konform ist 3 . Die Somatisation bietet<br />
3 Sie war bis vor kurzem die einzige Erkrankungsform, <strong>für</strong> deren<br />
Behandlung die Krankenkassenversicherung aufkam. Diese Haltung der<br />
Sozialversicherung ist wiederum durch maßgebliche Vertreter der Medizin<br />
beeinflußt. Wulff (19<strong>71</strong> a) schreibt, daß „die Psychopathielehren in Kurt