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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Psychopathie? Soziopathie? 67<br />

gebung, Strafvollzug, Fürsorgemaßnahmen etc. schafften die Psychopathielehren<br />

in Schneiders 15 Gefolge eine „Legitimationsgrundlage";<br />

sie gestatteten es auch, die mit der entfremdeten Arbeit immer stärker<br />

zunehmende Zahl von funktionell und psychosomatisch Gestörten<br />

als asthenische, hypochondrische oder hysterische Psychopathen über<br />

längere Zeit von den Leistungen der Krankenversicherung, insbesondere<br />

der Bezahlung von Psychotherapien, ebenso auszuschließen<br />

wie in entsprechend schweren Fällen von Berentungen. Psychopathien<br />

— ebenso wie neurotische Störungen — fielen nicht unter den<br />

Krankheitsbegriff der herrschenden Psychiatrie. Es „kommt ihnen die<br />

Bezeichnung krankhaft nicht zu" (Schneider) 15. Hier wird die Wissenschaft<br />

eindeutig in den Dienst der Unternehmer gestellt, um eine bessere<br />

Arbeitsdisziplin der „Leichtkranken" zu erzwingen — insbesondere<br />

derjenigen, deren Leiden mit den Bedingungen der entfremdeten<br />

Arbeit am engsten verknüpft ist. Man wird sich die Frage stellen<br />

müssen, ob es nicht gerade das Fehlen der gesetzlichen Krankenversicherungen<br />

in den USA war, das dort den Fortgang der wissenschaftlichen<br />

Arbeit bezüglich sozialer Ursachen psychischer Leiden<br />

ermöglicht und eine restriktive Fassung des Krankheitsbegriffes<br />

verhindert hat. Vielleicht hat die ökonomische Notwendigkeit, auf<br />

alle Fälle weiterarbeiten zu müssen, ganz gleich, wie die Krankheit<br />

nun definiert wurde, den Luxus einer mehr sozial und psychodynamisch<br />

eingestellten Psychiatrie ermöglicht, — weil sie sozialrechtlich<br />

konsequenzlos bleiben mußte.<br />

n Soziopathie<br />

A Konsequenzen des Begriffs<br />

In den USA hat die Anlage-Umwelt-Diskussion, die in Deutschland<br />

vor allem von den psychoanalytischen Autoren gegen die herrschende<br />

Psychopathologie geführt wurde, niemals viel Interesse wecken können<br />

(Moser) 21. An ihrer Stelle stand dort die Auseinandersetzung um<br />

die'Präponderanz sozialer oder psychischer Ursachen, m. a. W. also<br />

über die Alternative Psycho- oder Soziogenese. <strong>Das</strong> Diagnostic and<br />

statistic Manual der APA (American Psychiatric Association) faßt<br />

unter „sociopathoc personality disturbance" „antisocialreaction, dyssocial<br />

reaction, sexual deviation and addition as primary diagnosis"<br />

zusammen (Freedman and Kaplan 22 S. 951). „Antisoziale Reaktionen"<br />

zeigen „chronisch antisoziale Individuen, die immer in Schwierigkeiten<br />

kommen, und weder durch Erfahrung noch durch Strafe<br />

lernen, die keinerlei Bindung aufrechterhalten können an Personen,<br />

Gruppen, Gesetze oder Regeln. Sie sind oft genußsüchtig, zeigen<br />

deutliche emotionale Unreife, Mangel an Verantwortlichkeit und<br />

Urteilsfähigkeit und eine Fähigkeit, ihr Verhalten so zu rationalisieren,<br />

daß es vernünftig und gerechtfertigt erscheint". Die dissoziale<br />

Reaktion betrifft hingegen „Individuen, die eine Mißachtung der<br />

22 Freedman, Alfred, and Harold I. Kaplan: Comprehensive Textbook<br />

of Psychiatry. Williams and Wilkins. Baltimore 1967, S. 951.

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