Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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64 Erich Wulff<br />
„Anlagebedingt" war nun jeder Charakter, der „normale" wie der<br />
„abnorme". Ziegler 1* (1918) sah sowohl die Ungleichheit des Einkommens<br />
als auch die hohe Selbstrekrutierungsrate privilegierter Berufe<br />
in der unterschiedlichen Erbmasse der Betroffenen begründet und<br />
empfahl, durchaus sozialdarwinistisch, möglichst harte Lebensbedingungen<br />
<strong>für</strong> die Arbeiterklasse, um aus ihr die wenigen Individuen<br />
mit wertvollem Erbgut besser ausfiltern zu können. Nur wenig später,<br />
1923, erschienen dann K. Schneiders 15 „Psychopathische Persönlichkeiten",<br />
wo die Anlagebedingtheit der abnormen und normalen<br />
Persönlichkeiten so selbstverständlich geworden war, daß sie kaum<br />
mehr diskutiert werden mußte. Dieses Werk ist bis heute bestimmend<br />
geblieben <strong>für</strong> die deutsche Lehrstuhlpsychiatrie, und seine<br />
sozialpolitischen forensischen und wissenschaftstheoretischen Folgewirkungen<br />
lassen sich kaum überschätzen.<br />
Es ist nützlich, zu vergegenwärtigen, in welchem wissenschaftlichen<br />
und politischen Konzept sich die deutsche Psychopathielehre entwickelte.<br />
Auf der einen Seite verunsicherte die entstehende psychoanalytische<br />
<strong>Theorie</strong> das gesamte Begriffsgebäude der klassischen Psychiatrie.<br />
Im Gegensatz zur Schweiz, wo Eugen Bleuer 16 in eine rationale<br />
Auseinandersetzung mit den psychoanalytischen Konzepten eingetreten<br />
war, beschränkte sich die deutsche Psychiatrie auf irrationale<br />
Aggressivität oder simple Verleugnung der Psychoanalyse. Die<br />
Versteifung der Anlage- und Erblichkeitstheorien zu wissenschaftlichen<br />
Dogmen läßt sich also teilweise als Abwehr der Anstößigkeit<br />
erklären, die damit verbunden war, das „Eigentliche" und „Eigenste"<br />
jedes Menschen — seinen Charakter — auf die Entwicklungsbedingungen<br />
seiner frühkindlichen Sexualität zurückzuführen. Diese Erklärung<br />
genügt jedoch nicht, den Erfolg der deutschen Psychopathielehre<br />
in der bürgerlichen Öffentlichkeit und in den institutionellen<br />
Zentren der staatlichen Macht zu erklären. Dazu muß man sich vergegenwärtigen,<br />
daß zur gleichen Zeit auch die Arbeiterbewegung<br />
im deutschen Reich immer mehr an Boden gewann; die sozialdemokratische<br />
Partei wurde kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges zur<br />
stärksten Fraktion im Reichstag. Thesen wie die Zieglers 14 konnten<br />
nun sehr wohl dazu dienen, die Ansprüche der Arbeiter auf Vergesellschaftung<br />
der Produktionsmittel und auf eine klassenlose Gesellschaft<br />
als „unwissenschaftlich" lächerlich zu machen und zu verwerfen.<br />
Aber auch weniger extreme Formulierungen erwiesen sich<br />
als nützlich, wenn sie nur zur allgemeinen Überzeugung beitrugen,<br />
daß Tugenden wie Laster, abweichendes wie normgemäßes Verhalten,<br />
Gesetzestreue wie Gesetzesbruch, Durchsetzungskraft und<br />
Schwächlichkeit, sozialer Erfolg wie Mißerfolg vorwiegend auf erbliche<br />
Anlagen zurückgeführt werden müßten, die allenfalls der Mög-<br />
14 Ziegler, Heinrich Ernst: Die Vererbungslehre in der Biologie und in<br />
der Soziologie. G. Fischer, Jena 1918, S. 317—347.<br />
15 Schneider, Kurt: Die psychopathischen Persönlichkeiten. Leipzig u.<br />
Wien 1923.<br />
16 Bleuler, Eugen: Die Psychoanalyse Freuds. Leipzig 1911.