Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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54 Rainer Seidel<br />
nicht behandelt (oder nicht als behandlungsbedürftig angesehen).<br />
Analog ist eine hohe behandelte Morbidität mehrdeutig: eine vergleichsweise<br />
hohe behandelte Morbidität kann einen tatsächlich<br />
hohen Krankenstand anzeigen, sie kann aber auch eine vergleichsweise<br />
hohe Behandlungs- oder Betreuungsintensität anzeigen.<br />
8.2. Morbidität und Hospitalisierung in der Sowjetunion<br />
Da die psychiatrische Versorgung in der SU als Modell einer präventiv<br />
orientierten Versorgung dargestellt wurde, wäre es wünschenswert,<br />
die Ergebnis-Kriterien hierauf anzulegen und sie zu<br />
vergleichen mit den Daten eines Landes wie den USA, in dem sowohl<br />
<strong>für</strong> spezifische wie nicht-spezifische Prävention schlechtere Bedingungen<br />
gegeben sind.<br />
Allerdings stellen sich solchen Vergleichen erhebliche methodische<br />
Schwierigkeiten in den Weg. Unterschiede in den Krankheitsdefinitionen,<br />
unterschiedliche Erfassungsweisen und die Vielzahl der zu<br />
berücksichtigenden Faktoren machen es in der Regel schon sehr<br />
schwer, verschiedene Untersuchungen aus demselben Land zu vergleichen<br />
128 . Beim Vergleich verschiedener Länder oder Regionen<br />
kommen noch Faktoren hinzu wie Alters- und Geschlechtsverteilung,<br />
Kriegsfolgen, Industrialisierungsgrad, historische Gegebenheiten<br />
usw.<br />
Field (1967) diskutiert relativ ausführlich die Frage, ob in der SU<br />
eine vergleichsweise geringe Morbidität an psychischen Störungen<br />
besteht, wie es — nach seiner Darstellung — von den maßgeblichen<br />
sowjetischen Fachleuten angegeben wird. Field kommt zu keinen<br />
schlüssigen Ergebnissen. Kiev (1968) kommt in seinem Überblick<br />
über die Psychiatrie in den kommunistischen Ländern zu dem Schluß,<br />
daß „in einigen kommunistischen Ländern" eine niedrigere Gesamt-<br />
Inzidenz als in den westlichen Ländern erwiesen sei, und dies gehe<br />
auf die Orientierung der dortigen psychiatrischen Versorgung auf<br />
Vermeidung der Hospitalisierung zurück 129 . Freilich ist vorerst nicht<br />
zu klären, inwieweit der Grad der Industrialisierung das In-Erscheinung-Treten<br />
von psychischen Störungen beeinflußt. Wie aus dem<br />
historischen Abriß in Abschnitt 2 hervorgeht, können die Lebensverhältnisse<br />
in agrarischen Gebieten, sofern bäuerliche Familienbetriebe<br />
bestehen, das Bewahren von psychisch Gestörten in den Familien<br />
fördern. <strong>Das</strong> mehrfach zu hörende <strong>Argument</strong>, eine niedrige psychiatrische<br />
Morbidität in kommunistischen Ländern gehe auf den etwa<br />
im Vergleich zu den USA geringeren Industrialisierungsgrad zurück,<br />
müßte auf einer gründlicheren Analyse der dortigen Produktionsverhältnisse<br />
und der Lebensformen beruhen, um zu überzeugen.<br />
Denn es ist durchaus fraglich, ob etwa eine Kolchosenwirtschaft in<br />
128 Gründliche Diskussionen der methodischen Probleme finden sich<br />
z.B. bei Dohrenwend & Dohrenwend 1969, S. 76ff. und Kap. 7; weiterhin<br />
s. den Band THE DEFINITION AND MEASUREMENT OF MENTAL<br />
HEALTH 1968.<br />
129 PSYCHIATRY IN THE COMMUNIST WORLD 1968, S. 14 f.