Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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124 Hans Peter Dreitzel<br />
in der Erinnerung, im Vertrauen und in der Hoffnung auf die Solidarität<br />
der Kampfgenossen, Glaubensbrüder und Leidensgefährten,<br />
die dem total Isolierten als bloße reservatio mentalis bleibt, kann<br />
sich die Kraft der sozialen Beziehung erhalten. In der Identifikation<br />
mit dem anderen, und sei dieser selbst ein Gott, kann Distanz auch<br />
zur letzten Rolle noch behauptet werden: nur in Gesellschaft kann<br />
man gegen die Gesellschaft sein.<br />
Was die Rollendistanz im Binnenverhältnis von Person und Rolle<br />
als Bedingung des Überlebens ist, begründet sie im Außenverhältnis<br />
von Person und Gesellschaft als Bedingung der Veränderung. Denn<br />
erst die Distanz zu den eigenen Rollenidentitäten schafft den Abstand<br />
und den Reflexionsspielraum, der die Ablehnung von Rollen<br />
denkbar und die Konzipierung von Gegenrollen durchführbar macht.<br />
Es sind kaum je die Ärmsten und Elendesten, die den Aufstand anführen;<br />
Sklaven sind an ihre Rollen wie an Ketten gefesselt und<br />
begehren erst auf, wenn Alternativen sich zeigen. Da fragt sich nun<br />
freilich, ob der Rollenbegriff an der Verelendung die Grenze seiner<br />
Möglichkeiten erreicht hat.<br />
<strong>Das</strong> führt zu meiner fünften These:<br />
Am schwersten tut sich die Rollentheorie mit dem Klassenbegriff.<br />
<strong>Das</strong> liegt freüich nicht zuletzt an dem Stand einer Klassentheorie,<br />
die bei den ökonomischen Kriterien von Verfügung oder Nicht-<br />
Verfügung über die Produktionsmittel, Freiheit von oder Zwang<br />
zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft und Aneignung oder Enteignung<br />
des produzierten Mehrwerts stehengeblieben ist und die soziologische<br />
Ebene noch kaum erreicht hat. Im Hinblick auf die Klassenanalyse<br />
wirft die Rollentheorie zwei Fragen auf: 1. Kann der Vermittlungszusammenhang<br />
zwischen objektiver (ökonomischer) Klassenlage<br />
und subjektivem (gesellschaftlichem) Klassenbewußtsein sowie<br />
die Frage, welche Konstellation objektiver Zwänge und subjektiver<br />
Einstellungen zu einem bestimmten sozialen, beziehungsweise<br />
politischen, Handeln führt, nicht besser angegangen werden, wenn<br />
man untersucht, ob die „Freiräume" innerhalb der Arbeitsrollen, die<br />
Ausgleichsmöglichkeiten im Rahmen individueller Rollenhaushalte<br />
und das je vorhandene Potential an Gegenrollen eine eher kompensatorische<br />
oder eher emanzipatorische Funktion erfüllen? Und 2. : Ist<br />
nicht die Chance, unterdrückte Bedürfnisse politisch wirksam zu<br />
artikulieren und ihre Befriedigung gesellschaftlich durchzusetzen,<br />
in Wahrheit gebunden an die Legitimation solcher Bedürfnisse durch<br />
Identifikation mit Rolleninteressen? Unter der Voraussetzung, daß<br />
die Produktionsverhältnisse nicht einfach von Sacfazwängen, sondern<br />
von Menschen bestimmt werden, Menschen, die sich in der Arbeit<br />
entäußern, dienen solche — möglicherweise unbequemen — Fragen<br />
nicht einer Verschleierung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit,<br />
sondern dessen soziologischer Analyse.<br />
Die beiden Fragen sind nicht rhetorisch gemeint. Ich kann sie hier<br />
nur kurz kommentieren. Zur ersten Frage: ich vermute, daß die Entwicklung<br />
des Kapitalismus generell zu einer Vergrößerung und stärkeren<br />
Verfügbarkeit des typischen individuellen Rollenhaushalts und<br />
zu einer Intensivierung der Rollendistanz geführt hat — ein Prozeß,