Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Michael Lukas Moeller<br />
psychoanalytische Behandlung aufmerksam gemacht (vgl. u. a. Freud<br />
1909). De Boor (1958) widmete dem unbewußten Widerstand gegenüber<br />
der psychosomatischen Behandlung eine Arbeit. Abwehr und<br />
Widerstand wirken sich aber schon weit vor jeder einsetzenden Behandlung,<br />
weit vor dem institutionalisierten Raum aus: von den<br />
ersten Entscheidungsstufen — Störungen wahrzunehmen, unter<br />
ihnen zu leiden, sich als krank zu definieren — bis zu letzten —<br />
einen bestimmten Arzt wegen einer bestimmten Behandlung aufzusuchen<br />
— sind Widerstand und Abwehr wesentliche unbewußte<br />
Selektionsmechanismen und damit von großer gesundheitspolitischer<br />
Bedeutung.<br />
Schließlich ist die Entscheidungsfunktion bei allen psychisch<br />
Kranken beeinträchtigt. „My middle name is indecision" ist die<br />
schon klassische Namensfindung eines neurotischen Patienten von<br />
Rangell (1969). Da psychisch Kranke dazu neigen, sich schwerer oder<br />
unangemessener zu entscheiden, bleiben sie in der langen Entscheidungsreihe,<br />
die zum Arzt führen soll, sozusagen hängen.<br />
Die genannten Momente, das passiv-phobisch-depressive Gesamtverhalten,<br />
die neurotische Übertragung, der Widerstand gegen die<br />
Behandlung und die Entscheidungsunfähigkeit kennzeichnen den<br />
Abwehrcharakter des Krankenverhaltens. Die Erkrankung hält die<br />
Kranken vom Arzt fern. Der Weg zum Arzt wird dadurch <strong>für</strong> psychisch<br />
Kranke eine spezifische Überforderung.<br />
Diese generelle arztmeidende Tendenz läßt erwarten, daß auch bei<br />
ausreichendem Therapieangebot die neurotischen und psychosomatischen<br />
Patienten nur einen geringen Teil des unsichtbaren und unversorgten<br />
Krankenstandes darstellen. <strong>Das</strong> bestätigt eine Felduntersuchung<br />
von Baker (1965): ca. 70 % der behandlungsbedürftigen<br />
psychisch gestörten Studenten bleiben dem Psychotherapeuten fern.<br />
Nach einer <strong>für</strong> USA repräsentativen Felduntersuchung gehen allein<br />
9 % der Gesamtbevölkerung nicht zum Arzt (Gurin, Veroff, Feld<br />
1969), obwohl sie schon bis zur letzten Entscheidungsstufe gekommen<br />
waren, nämlich zur subjektiven Überzeugung, wegen psychischer<br />
Probleme professionelle Hilfe aufsuchen zu sollen. Die größeren<br />
Anteile des unsichtbaren Krankenstandes dürften jedoch unter<br />
diesem Entscheidungsstadium liegen: noch vor der Entscheidung,<br />
Hilfe anderer zu benötigen, ja, noch vor der Eigendiagnose 2 .<br />
b) Arztaversität und Arztaffinität<br />
Differenziert man stärker, so liegt die Konfliktabhängigkeit des<br />
Krankenverhaltens eine weitere Annahme nahe: eine Reihe psychi-<br />
und damit die psychische Störung als „legale" Krankheit anerkennen. Sie<br />
steigert sich, wenn die Arbeitssituation eine „nur" psychische Störung als<br />
Erkrankung nicht gestattet.<br />
2 <strong>Das</strong> hängt selbstverständlich vom Bildungsstand und von der finanziellen<br />
Lage, d. h. von der sozioökonomischen Situation der Kranken ab<br />
(vgl. weiter unten).