Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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164 Besprechungen<br />
der Delinquenten als Opfer der Gesellschaft angesehen werden. Es<br />
handelt sich meistens um Milieu-Geschädigte, oft aus zerrütteten<br />
oder asozialen Ehen, die ihre Kindheit in Waisenhäusern und Heimen<br />
verbracht haben. Hinzu kommt, daß die Gesellschaft wie das<br />
Individuum die eigenen mehr oder weniger unbewußten kriminellen<br />
Tendenzen auf die Straffälligen projizieren; sie bilden willkommene<br />
Objekte feindseliger Affekte im Sinne der Sündenbock-Psychologie<br />
(siehe Beitrag Naegeli)" (14). Man hofft, daß in dem Buch soldie<br />
Ansätze vertieft werden. Aber am Beitrag Naegelis, der als der Fortschrittlichste<br />
in diesem Kreis gilt, wird klar, daß die Grenzen der<br />
Diskussion die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft selber sind. So<br />
kommt denn auch von Bitter der Vorschlag zur Vorbeugung. „Zur<br />
Vorbeugung sollte daher — abgesehen von der Ehe- und Erziehungsberatung<br />
— das Augenmerk auf die Reform der Waisenhaus- und<br />
Heimerziehung gerichtet werden" (14/15). — Ist aber eine Vorbeugung<br />
nicht mehr möglich, sind die Menschen schon straffällig geworden,<br />
sollten audi <strong>für</strong> die Strafgefangenen die Grundsätze der Menschenwürde<br />
und der christlichen Ethik gelten (16). Die letztgenannten<br />
Grundsätze waren auch die einheitlich anerkannten Grundlagen der<br />
Diskussion auf dieser Tagung.<br />
Auch was die Maßnahmen anbetrifft, waren sich die Tagungsteilnehmer<br />
einig. In allen Beiträgen kommt zum Ausdruck, daß es<br />
das Ziel der Maßnahme in der sozialtherapeutischen Anstalt sei, den<br />
Täter wieder in die Gesellschaft, als vollwertiges Gesellschaftsmitglied,<br />
einzugliedern. Problematisiert wurde an keiner Stelle, daß<br />
diejenigen, die durch die Gesellschaftsverhältnisse straffällig geworden<br />
sind, wieder in diese Gesellschaft, die sich nicht verändert hat,<br />
zurückkehren müssen. Es wird also nicht auf Ursachen eingegangen,<br />
durch die Straffälligkeiten hervorgerufen werden. Zu ändern, d. h.<br />
an die Gesellschaftsverhältnisse anzupassen, ist also nur der straffällig<br />
Gewordene. So gilt denn auch die Arbeit der Patienten in der<br />
Klinik der Tagungsteilnehmerin Roosenburg aus Utrecht nicht so<br />
sehr als Therapie, sondern als Training <strong>für</strong> Arbeitsdisziplin. Die Patienten<br />
werden dementsprechend auch nach Leistung bezahlt. Sie<br />
werden bewußt den Spannungen ausgesetzt, denen sie auch am<br />
Arbeitsplatz in der Industrie ausgesetzt sind (98).<br />
Da wir auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafvollzugs<br />
Neuerungen in der BRD erleben, und weil wir einen Literaturnotstand<br />
auf diesem Gebiet haben, eignet sich das Buch dazu, sich<br />
einen Überblick darüber zu verschaffen, woran sich unsere Gesetzgebung<br />
orientiert. <strong>Das</strong> vorliegende Buch gibt den neuesten Stand auf<br />
dem Gebiet des Maßnahmevollzugs in sozialtherapeutischen Anstalten<br />
wieder. — Beim <strong>kritische</strong>n Studium dieser Beiträge wird aber<br />
auch deutlich, daß man sich durch „fortschrittliche" Gesetzesänderungen<br />
keine Änderung des Bestehenden erhoffen kann, solange die<br />
Kriterien, nach denen die Straffälligen beurteilt werden, Kriterien<br />
sind, die vom Gesellschaftssystem und den aus ihm resultierenden<br />
Wertungen abhängig sind. Detlef Horster (Holzheim)