Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
138<br />
Besprechungen<br />
Abhandlung dem Zweck zu diskutieren, „ob sich Kunst nicht immer<br />
noch als Mimesis begreifen läßt" (10).<br />
Als „Grundkategorien der Mimesistheorie" unterscheidet Tomberg<br />
zwischen Widerspiegelung, Antizipation und Parteilichkeit. Bezeichnend<br />
<strong>für</strong> Tombergs Methode der Verbindung systematischer und<br />
historischer Analytik ist es, daß diese Kategorien nicht abstrakt deduziert,<br />
sondern aus Texten der kunstphilosophischen Tradition erschlossen<br />
werden: die Kategorie der Widerspiegelung aus der Aristotelischen<br />
Poetik, die Kategorie der Antizipation aus Schillers Dichtungstheorie,<br />
die der Parteilichkeit aus der Kunsttheorie von Lukäcs.<br />
Ausgehend von einer präzisen Interpretation der Poetik weist Tomberg<br />
nach, daß die Aristotelische Bestimmung der Kunst als Mimesis<br />
der Praxis, obwohl vornehmlich am Gegenstand der Tragödie orientiert,<br />
<strong>für</strong> alle Formen der Poesie Gültigkeit besitzt. Aristoteles „setzt<br />
bereits als bekannt und selbstverständlich voraus, daß die Kunst (...)<br />
handelnde Menschen nachahmt" (11). Der grundlegende Begriff der<br />
Praxis hat dabei den Sinn „gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit",<br />
d. i. solche Tätigkeit, „die letztlich zur vollendeten Eudaimonie als<br />
der gelungenen Übereinstimmung von Mensch und Natur führen<br />
soll" (17). <strong>Das</strong> Kunstwerk als Mimesis der Praxis ist somit Nachahmung<br />
der dialektischen Einheit von Mensch und Natur; Nachahmung<br />
der Natur ist es insofern auch, als es „imitatio von Dingen<br />
ist, die der durch Arbeit vermenschlichten Natur angehören" (18).<br />
Tombergs Interpretation der Kunstauffassung des Aristoteles gehört<br />
zu den überzeugendsten Teilen seiner Schrift. Die sozialphilosophische<br />
Begründung kunsttheoretischer Analytik, die Tombergs<br />
gesamte Auseinandersetzung mit Phänomenen der Kunst beherrscht,<br />
findet er in der Philosophie des Aristoteles vorgezeichnet: in der Zuordnung<br />
des Begriffs der Kunst zur sozialen und ideologischen Situation<br />
der athenischen Polis. So hat die Kunst bei Aristoteles primär<br />
die Funktion eines in der ästhetischen Imagination zu vollziehenden<br />
„freudigen Erkennens" seitens des Polisbürgers (Katharsis als ästhetische<br />
Lust), eines Erkennens des gesellschaftlichen Sinnes seiner<br />
Existenz: der allein in der Polis wirklichen Eudaimonie als der harmonischen<br />
Wesenseinheit von Mensch und Natur. In diesem Sinne<br />
verstanden wird Mimesis bei Aristoteles „wesentlich zur Widerspiegelung<br />
einer gegenwärtig vollendeten Eudaimonie" (25).<br />
Bezieht sich der Begriff der Widerspiegelung auf die Darstellung<br />
einer als Eudaimonie begriffenen gegebenen Wirklichkeit, so meint<br />
der der Antizipation Mimesis „einer zukünftig wirklichen Eudamonie"<br />
(28): Vorgriff auf ein Noch-nicht-Wirkliches. Es ist dies <strong>für</strong> Tomberg<br />
die Essenz der Schillerschen Dichtungstheorie. Schillers Begriff des<br />
Ideals wird souverän von der Falsifikation durch die deutsche bürgerliche<br />
Ideologie befreit und in seiner Gültigkeit <strong>für</strong> eine historischmaterialistische<br />
Kunsttheorie aufgearbeitet. Dies kann allerdings<br />
nicht von Schillers idealistischen Prämissen her geschehen. Vielmehr<br />
ist Antizipation nur dann „als eine legitime Kategorie der ästhetischen<br />
Mimesis" anzuerkennen, wenn gezeigt wird, „daß auch dann<br />
die Mimesis einer vollendeten gesellschaftlichen Eudaimonie möglich