Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Bedingungen <strong>für</strong> die Prävention psychischer Störungen 29<br />
Ziehungsverhaltens oder schädigende Einflüsse in anderen Sozialisationsbereichen<br />
festzustellen. Sie fragen nicht nach den dahinterliegenden<br />
Bedingungen und den Perspektiven einer Änderung in<br />
breitem Maßstab. Geklärt werden müßte z. B.: aufgrund welcher<br />
materieller Bedingungen sind Mütter über<strong>für</strong>sorglich? Hier bietet<br />
sich z. B. die Hypothese an, daß die ökonomisch vom Mann abhängige<br />
Hausfrau in den mittleren Sozialschichten nicht ausgefüllt ist<br />
von ihrer Tätigkeit und sich daher emotional übermäßig an Kind<br />
oder Haushalt klammert; sodann ist weiterzufragen, welche gesellschaftlichen<br />
Voraussetzungen eine Qualifikation und Berufstätigkeit<br />
der Frau erst ermöglichen. Bei berufstätigen Frauen ist z. B. zu<br />
erwägen, inwieweit die Doppelbelastung durch Arbeit und Haushalt<br />
sie ungeduldig werden läßt, so daß sie durch falsches Erziehungsverhalten<br />
psychische Störungen bei ihrem Kind hervorruft; auch hier<br />
greift jede Analyse zu kurz, die nicht noch weiterfragt, unter welchen<br />
gesellschaftlichen Bedingungen diese Doppelbelastung vermieden<br />
werden kann. Nur durch eine konsequente wissenschaftliche Analyse<br />
kann die Frage beantwortet werden, welche Möglichkeiten der Prävention<br />
auf längere Sicht hin bestehen. Richter, der pathogene Familienkonstellationen<br />
von ihrer psychodynamischen Seite her analysiert<br />
hat, impliziert, daß durch eine geeignete, nicht nur äußere Erziehungspraktiken<br />
allein modifizierende Einwirkung eine gewisse Neurosen-Prophylaxe<br />
zu erreichen sei 50 . Dieser in letzter Zeit häufiger<br />
auftauchende Ansatz, durch Einwirken auf die psychische Struktur<br />
einzelner Personen präventiv wirken zu können, hat mindestens zwei<br />
unüberwindbare Schranken. Zum einen: was nützt psychodynamische<br />
Beeinflussung, wenn die materiellen Bedingungen eine grundlegende<br />
Änderung nicht zulassen, z. B. wenn eine Frau sich mangels Qualifikation<br />
und aufgrund der Arbeitsmarktlage keine Arbeit verschaffen<br />
kann. Zum andern: unter den gegenwärtigen Bedingungen kann<br />
solche Beeinflussung sicher nur eine sehr begrenzte Zahl von Personen<br />
und vermutlich nur gewisse Schichten der Bevölkerung erreichen;<br />
denn wer soll wie und durch welche Mittel (auch finanzielle)<br />
Millionen Menschen in der richtigen Weise über psychodynamische<br />
Zusammenhänge aufklären? Die einzig realistische Perspektive, unter<br />
der auch Erkenntnisse über die Psychodynamik des Individuums<br />
voll einsetzbar sind, läßt sich etwa so zusammenfassen: Durch Bereitstellung<br />
gesellschaftlicher Erziehungs- und Bildungseinrichtungen<br />
mit qualifizierten Erziehern und in ausreichender Zahl kann eine<br />
Erziehung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgen. Nur auf<br />
diesem Wege können — im gesamtgesellschaftlichen Maßstab gesehen<br />
— die wichtigsten Erziehungsfehler und Abhängigkeiten der<br />
Kinder von elterlichem Fehlverhalten beseitigt werden. Damit soll<br />
nur eine grundsätzliche Tendenz angegeben sein, die freilich noch<br />
viele Varianten zuläßt. Gegenüber dieser These von der Bedeutung<br />
vergesellschafteter Erziehung <strong>für</strong> die Prävention psychischer Störungen<br />
wird eingewandt, daß auch die Erzieher Fehler machen und daß<br />
50 Richter 1969, S. 15 f.