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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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88<br />

Michael Lukas Moeller<br />

Krankheits verhalten bei psychischen Störungen<br />

und die Organisation psychotherapeutischer<br />

Versorgung<br />

1. Einleitung<br />

In der historischen Entwicklung der Medizin wurde das Krankheitsverhalten<br />

erst sehr spät zu einem wissenschaftlichen Konzept<br />

zusammengefaßt, 1960—1962 von David Mechanic in USA (Mechanic<br />

und Volkhart 1960, 1961; Mechanic 1962). <strong>Das</strong> Konzept fand im<br />

ersten Jahrzehnt seiner wissenschaftlichen Existenz wenig Resonanz.<br />

Selbst in der ausführlichsten Registratur medizinischer Publikationen,<br />

im INDEX MEDICUS (1970), ist es bis heute nicht verzeichnet.<br />

Erstaunlich ist diese wissenschaftliche Vernachlässigung des Krankheistverhaltens<br />

besonders deswegen, weil es mit jeder Krankheit<br />

gegeben, d. h. unmittelbar zu beobachten, und gesundheitspolitisch<br />

von höchster Bedeutung ist. <strong>Das</strong> Krankheitsverhalten bestimmt u. a.,<br />

wie die Bevölkerung bei Erkrankungen handelt, wann sie sich etwa<br />

entschließt zum Arzt zu gehen, d. h. die institutionalisierte Versorgung<br />

zu beanspruchen.<br />

Die wissenschaftliche Vernachlässigung des Krankheitsverhaltens<br />

dürfte eine Art Verdrängung signalisieren, auf die ich in diesem<br />

Rahmen nicht weiter eingehen kann. <strong>Das</strong> Krankheitsverhalten gehört<br />

offensichtlich zu jener Tabuisierung, zu jenen „Taboo Topics"<br />

der Medizin, die nicht nur die psychischen Störungen selbst, sondern<br />

alle psychosozialen Phänomene bei Krankheiten trifft (Faberow<br />

1963; vgl. auch Kilian 1970).<br />

Dadurch ist die medizinische Versorgung aber auch gehindert, sich<br />

adäquat auf die psychische und soziale Situation der Kranken hin<br />

zu entwickeln. Unvorbereitet ist sie z. B. auf die psychische Situation<br />

der Infarktgefährdeten, die sich aus unbewußter Angst vor<br />

Passivität und Schwäche von ihren Körperbeschwerden zu sehr<br />

distanzieren (Seemann 1964 a, 1964 b; Christian 1966, 1968) und in<br />

42 °/o selbst nach der ersten Herzattacke nicht den Arzt aufsuchen<br />

(Kannel, Widmer, Dawber 1965). Ebenso unentwickelt ist sie <strong>für</strong> die<br />

psychische Situation der Tuberkulosekranken (Pflanz 1962) und der<br />

Krebskranken (Henderson, Wittkower, Longheed 1958; Cobb, Clark,<br />

McGuire, Howe 1954), die bei subjektivem Krankheitsverdacht aus<br />

Angst den Arzt eher meiden als aufsuchen. Und sie ist unangemessen<br />

<strong>für</strong> die soziale Situation der unteren Schichten, der Arbeiter,<br />

Bauern, Obdachlosen, die weniger von selbst zum Arzt gehen, obwohl<br />

sie mehr erkranken (Koos 1954; Hollingshead and Redlich 1958;

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