Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Soziale Rolle und politische Emanzipation 115<br />
oder die ,Basis'" 8 . Einerseits, so heißt es bei Engels, sind die Beweggründe<br />
<strong>für</strong> die in der Geschichte tätigen Einzelwillen <strong>für</strong> das Gesamtergebnis<br />
unerheblich, „andererseits fragt es sich weiter, welche<br />
treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen" 9 . Bei<br />
sozialem Handeln ist Bewußtsein allemal mit im Spiel, ob nun als<br />
„richtiges" oder „falsches"; weder <strong>für</strong> die Ursachen noch <strong>für</strong> die Folgen<br />
sozialen Handelns ist es unerheblich, was die Menschen sich dabei<br />
denken. Gerade die Geschichte der jüngsten Protestbewegungen<br />
hat wieder gezeigt, wie sehr politisches Handeln von der Interpretation<br />
der eigenen Klassenlage abhängt, und es wäre vordergründig,<br />
hier den Spielraum des Bewußtseins nur in der sogenannten „Strategiedebatte"<br />
sehen zu wollen. Die materialistische Analyse mag den<br />
Rahmen notwendiger Bedingungen <strong>für</strong> Bewußtseinsbildung und politisches<br />
Handeln abstecken, hinreichende Bedingungen <strong>für</strong> Veränderung<br />
oder Stagnation kann sie nicht aufdecken. Offenbar muß die<br />
„Basis", selbst doch wohl auch ein Produkt von Menschen, noch einmal<br />
„durch den Kopf" hindurch, um „zu sich selbst zu kommen". Die<br />
Köpfe aber sind auf verschiedenste Weise immer schon deformiert,<br />
vernagelt auch gegenüber der historischen Notwendigkeit des Klassenkampfes.<br />
Warum? Es hilft hier nicht, wie Lukäcs mystifizierend<br />
davon zu sprechen, daß das „Klassenbewußtsein nicht das psychologische<br />
Bewußtsein einzelner Proletarier oder das (massenpsychologische)<br />
Bewußtsein ihrer Gesamtheit" sei, „sondern der bewußt gewordene<br />
Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse". Denn konkret<br />
heißt das <strong>für</strong> Lukäcs, daß die „Gestalt des proletarischen Klassenbewußtseins<br />
. . . die Partei" ist, eine Organisation also, die von ihren<br />
Mitgliedern „das bedingungslose Aufgehen der Gesamtpersönlichkeit"<br />
verlangt 10 , und sie damit Rollennormen unterwirft, die offenbar<br />
keinen Spielraum mehr lassen <strong>für</strong> eine Bewußtseinsbildung jenseits<br />
der vorgeschriebenen Linie.<br />
Der Rollenbegriff bietet hier einen Ansatz, weil er zeigen kann,<br />
wie sich das gesellschaftliche Bewußtsein über die Identifikation mit<br />
der Rolle und die reflexive Distanz gegenüber der Rolle zugleich vermittelt.<br />
Auszugehen wäre von einer „doppelten Konstitution" des<br />
Bewußtseins 11 : die sozio-ökonomische Klassenlage bildet einerseits<br />
aufgrund der familiären wie außer-familiären Sozialisation, anderer-<br />
8 Karl Markus Michel, Wer wann warum politisch wird — und wozu.<br />
Ein Beispiel <strong>für</strong> die Unwissenheit der Wissenschaft. In: Kursbuch 25,<br />
Okt. 19<strong>71</strong>, S. 7. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes, auf dem meine folgenden<br />
Bemerkungen basieren, steht die auch <strong>für</strong> die Beurteüung der Rollentheorie<br />
zentrale Frage nach der Bedeutung des „subjektiven Faktors" im<br />
Rahmen einer materialistischen Gesellschaftstheorie.<br />
9 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen<br />
deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 297.<br />
10 Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 53,<br />
321 ; zitiert nach K. M. Michel, op. cit., S. 9.<br />
11 Zum Begriff der „doppelten Konstitution" vgl. Lothar Hack, Begründung<br />
des doppelten Konstitutionsprozesses, unveröffentlichtes Manuskript,<br />
<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Soziologie der FU, Herbst 19<strong>71</strong>.