Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Krankheitsverhalten bei psychischen Störungen 91<br />
Die Befunde stimmen mit der psychoanalytischen <strong>Theorie</strong> psychischer<br />
Störungen gut überein. <strong>Das</strong> epigenetische Entwicklungsmodell<br />
von Erikson (1950, 1966) gibt als Resultate mißlungener Lösungen<br />
psychosozialer Krisen in der Kindheit fast gleichlautend die erhobenen<br />
Merkmale an: Mißtrauen; Selbstzweifel und Scham; Schuldgefühle<br />
; Minderwertigkeitsgefühle.<br />
Psychodynamisch gesehen entwickelt sich die Beziehung zu sich<br />
selbst und die Beziehungen zu Partnern in gleichen Schritten (Cameron<br />
1963). Eine Störung der primären Eltern-Kind-Beziehung resultiert<br />
somit gleichzeitig in einer intrapsychischen Störung und in<br />
einer Störung der Beziehung zu anderen. Dabei wird die Störung in<br />
den Partnerbeziehungen, die psychosoziale Störung, in ihrer unmittelbaren<br />
Wirkung auf die soziale Entwicklung und die aktuelle<br />
soziale Situation des Kranken meist unterschätzt.<br />
Beide Dimensionen der psychischen Störungen, die intrapsychische<br />
und die psychosoziale, stellen nun auf dem Weg zum Arzt entscheidende<br />
Barrieren dar: Passivität, Schuldgefühle und Hemmung eigener<br />
Initiative hindern jede Stufe der Entscheidungssequenz. Rückzug,<br />
Mißtrauen und das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden, also die Kontaktstörungen,<br />
verringern die Chancen, in diesen Entscheidungsprozessen<br />
das wichtige sogenannte Laienkommunikationssystem (Familie,<br />
Freunde, Nachbarn, Kollegen, halbtherapeutische Personen<br />
etc.; vgl. Cowles, Polgar, Simmons and Switzer 1963; Freidson 1960)<br />
zu nützen. Wird der Arzt überhaupt zur Zielperson, werden die<br />
psychischen Konflikte die antizipierte Beziehung zum Arzt besonders<br />
stark beeinflussen. Sie wird also durch den starken Anteil intermittierender<br />
unbewußter Konflikte wie alle anderen zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen in spezifischer Weise verändert erlebt<br />
werden (vgl. die Rollenmodelle von Richter 1963, 1970). <strong>Das</strong> wäre der<br />
Aspekt der neurotischen Übertragung, durch die unerledigte konflikthafte<br />
Beziehungen aus der Kindheit in jede Partnerbeziehung<br />
hineingetragen werden. Bei psychischen Störungen wird dadurch der<br />
Arzt zur Konfliktfigur, die bewußte oder unbewußte Angst aktualisiert.<br />
Eine konkrete Begegnung mit ihm dürfte auf Grund dieser<br />
konfliktgeprägten Erwartungen eher gemieden werden.<br />
Gemeinsam mit diesem Übertragungs- bzw. Projektionsphänomen<br />
dürfte im Krankenverhalten ein zweites <strong>für</strong> die Psychoanalyse<br />
zentrales Phänomen wirksam werden: die Abwehr gegenüber den<br />
eigenen pathogenen Konflikten und der Widerstand gegen ihre Behandlung.<br />
Kein Mensch nähert sich gern jenen psychischen Konflikten,<br />
die einmal überwältigende Angst machten. Dabei spielen Schuldgefühle<br />
die sich in den Angaben der Patienten deutlich niederschlagen,<br />
eine zentrale Rolle. Durch diese Schuldqualität dürften sich<br />
psychische Erkrankungen von rein somatogenen Erkrankungen unterscheiden<br />
1 . Freud hatte schon früh auf den Widerstand gegen die<br />
1 Diese Schuldqualität wird durch das Versorgungssystem und die<br />
soziale Situation des Individuums mitbestimmt. Sie reduziert sich erheblich,<br />
wenn etwa die Kassen psychotherapeutische Behandlungen bezahlen