Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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126 Hans Peter Dreitzel<br />
Arbeiterschaft erfaßt haben 31 . Zugleich zeigt sich allerdings, daß mit<br />
der wachsenden Integration der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz<br />
in den kapitalistischen Verwertungsprozeß, überhaupt mit der<br />
Industrialisierung (also der Intensivierung der Arbeitsproduktivität)<br />
aller white-collar-Berufe, die Arbeitsrollen der Mittelschichten tendenziell<br />
ebenso repressiv, nämlich Ich-Leistungen unterdrückend,<br />
werden wie die der Arbeiter. Es kommt also tendenziell zu einer Angleichung<br />
der Arbeitssituationen; dabei wird wegen der vergrößerten<br />
Kompensationschancen im Rollenhaushalt, zum Teil auch wegen<br />
einer Veränderung der Arbeitsqualität selbst, Arbeit kaum mehr als<br />
bloße Lohnknechtschaft erlebt; andererseits aber stellt rationales<br />
Handeln sich nun auch nicht mehr dem — wie immer falschen — Bewußtsein<br />
als persönliche Leistung, sondern als Systemzwang dar.<br />
Dieser Zustand kennzeichnet eine neue Qualität der Entfremdung:<br />
relative Distanz ohne gleichzeitiges Engagement. Entscheidender<br />
Ausdruck dieser Entfremdung ist die Affektverdrängung beim Rollenverhalten,<br />
die tendenziell von den Arbeitsrollen auf andere Rollen<br />
übergreift, und die im Typ des Schreibtischmörders längst ihre<br />
historische Gestalt gewonnen hat. Die Verwertungsinteressen des<br />
Kapitals verlangen ein affektfreies, aller Emotionen entkleidetes<br />
Rollenverhalten. Ursprünglich ging es um Affektkontrolle, heute<br />
geht es zunehmend um Affektverdrängung. Unter diesen Umständen<br />
bleiben etwa die von Habermas formulierten Sozialisationsziele<br />
„Frustrationstoleranz", „kontrollierte Selbstdarstellung" und „flexible<br />
Über-Ich-Formation" ein bürgerliches, nämlich von den Produktionsverhältnissen<br />
zunehmend überholtes, Ideal audi <strong>für</strong> die<br />
Mittelschichten 32 .<br />
Zur zweiten Frage:<br />
Im Rahmen des Rollenparadigmas können legitime Interessen als<br />
Rolleninteressen verstanden werden, das heißt, als erwartete Verhaltensorientierungen.<br />
Daraus folgt, daß unterdrückte Bedürfnisse<br />
sich politisch wirksam auf die Dauer nur artikulieren können, wenn<br />
sie entweder — was einer reformistischen Strategie entspräche —<br />
sich mit den schon legitimierten, also erwarteten, Interessen etablierter<br />
Rollen identifizieren können, oder wenn sie — was einer revolutionären<br />
Strategie entspräche — sich mit dem Legitimitätsanspruch<br />
der von politischen oder subkulturellen Gegenrollen behaupteten<br />
Interessen verbinden können, wobei in diesem Fall eine entsprechende<br />
Verhaltensorientierung wenigstens von Seiten der Genossen<br />
erwartet wird. Vorausgesetzt ist hier, daß Interessen deshalb zur<br />
erwarteten Verhaltensorientierung im Rahmen einer Rolle gehören,<br />
weil die Individuen Bedürfnisse haben, die nur im Rollenverhalten<br />
wenigstens partiell befriedigt werden können. Denn die Normierung<br />
des Verhaltens hat ja vor allem die Funktion, ein System der Bedürf-<br />
31 Dazu vor allem David Lockwood/John H. Goldthorpe, The Affluent<br />
Worker, Cambridge 1968.<br />
32 Jürgen Habermas, Thesen zur <strong>Theorie</strong> der Sozialisation, Vorlesungsskript,<br />
Raubdruck 1968, S. 11.