Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Krankheitsverhalten bei psychischen Störungen 97<br />
aktive Leistung, den Arzt aufzusuchen, ist an Entschlüsse und Kommunikationen<br />
gebunden, die er aufgrund seiner Krankheit nur<br />
schwer zustande bringt. Wer so in Unkenntnis über die Krankheit, in<br />
Widerstand gegen die Krankheit und in psychosozialer Passivität<br />
befangen ist, kann nicht den ersten Schritt machen. Dem Blinden<br />
wird hier die Orientierung überlassen. Es ist jetzt umgekehrt zu<br />
formulieren: die Versorgung ist krahkenavers.<br />
2. Auch in der Psychotherapie werden ärztliche Erkenntnisse dem<br />
Laien — von Ausnahmen <strong>für</strong> besonders Gebildete abgesehen — ungenügend<br />
vermittelt. Die medizinische Wissenschaft entwickelt sich<br />
hier exklusiv gegen ihren Auftrag, <strong>für</strong> den Kranken da zu sein (vgl.<br />
Schäfer 1963). Die Kommunikation zum Laien als potentiellen Kranken<br />
wird nicht nur nicht gefördert, sondern, soweit überhaupt existent,<br />
als Populärwissenschaft abgewertet. Mit dieser Negation der<br />
Öffentlichkeitsarbeit steht die Versorgung in vollem Widerspruch zu<br />
ihren Kranken, ganz besonders zu jenen, die auf Grund geringerer<br />
Schulbildung von vornherein über weniger Informationen verfügen.<br />
Bei psychisch Kranken erfordern gerade der Mangel an Krankheitskenntnis,<br />
die durch den Widerstand erschwerte Krankheitswahrnehmung<br />
und die beeinträchtigten psychosozialen Funktionen besonders<br />
dringend eingehende Informationen und Anleitungen.<br />
3. Die heutige Organisation der Versorgung macht es unumgänglich,<br />
daß der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutische Klinik<br />
nur in seltenen Fällen direkt spontan aufgesucht werden kann.<br />
Psychisch Kranke sehen zuerst den nicht-therapeutischen Arzt. Eine<br />
adäquate Versorgung müßte auf diese Tatsache eingestellt sein.<br />
Die erste Begegnung des psychisch Kranken mit dem Arzt ist<br />
schon aus diagnostischen, mehr aber aus psychologischen Gründen<br />
besonders diffizil. Der psychisch Kranke verhält sich mehr als andere<br />
unsicher und ambivalenter. Er leidet wegen seiner Krankheit<br />
oft an unbewußten Schuldgefühlen. Er fühlt sich von anderen weniger<br />
akzeptiert, wie er sich auch selbst schwerer anerkennen kann.<br />
Er tendiert dazu, seine Erkrankung eher zu verhüllen als aufzudecken.<br />
Er ist durch seine größere, labilere Abhängigkeit leichter zu<br />
enttäuschen.<br />
Der nicht-psychotherapeutische Arzt ist in dieser Aufgabe weder<br />
durch die Ausbildung, noch durch die Struktur seiner eigenen Tätigkeit,<br />
noch durch koordinierte Kooperation mit Fachpsychotherapeuten<br />
unterstützt. Im Gegenteil ist er häufig in seinem eigenen Widerstand<br />
(vgl. De Boor 1958) durch die Vorbehalte der naturwissenschaftlichen<br />
Medizin gegenüber der Psychotherapie noch gefördert.<br />
Beachtet man diese Verhältnisse in bezug auf das besondere Krankenverhalten,<br />
so ist es kaum überspitzt zu sagen, daß die Versorgung<br />
dort, wo sie erstmals einsetzt, nur <strong>für</strong> eines sorgt: <strong>für</strong> ihr Gegenteil.<br />
Nach amerikanischen Felduntersuchungen (Gurin, Veroff, Feld 1960)<br />
werden von Kranken, die wegen psychischer Probleme tatsächlich<br />
ärztliche Hilfe aufsuchen, 60 % vom nicht-psychotherapeutischen<br />
Arzt versorgt. Die Art der Versorgung ist unklar. An den Erwartungen<br />
der Patienten (vgl. Gurin, Veroff, Feld 1960) und der Ausbil-