Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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122 Hans Peter Dreitzel<br />
Der Begriff der Rollenhaftigkeit bezeichnet, was Helmut Plessner<br />
das „Doppelgängertum des Menschen" genannt hat, seine „Exzentrizität"<br />
24 : eine prinzipielle Distanz des Menschen zu sich selbst, die auf<br />
der anthropologischen Ebene ermöglicht, was auf der soziologischen<br />
Ebene Rollendistanz heißt. Beide Formen der Distanz hängen also<br />
eng miteinander zusammen: die Distanz zwischen Person und Rolle<br />
drückt sich zunächst in der Verdoppelung der Person in Ich-Identität<br />
und Rollenidentität aus; der Abstand zwischen beiden entspricht aber<br />
zugleich dem Abstand zwischen der Person und den Rollenerwartungen.<br />
Daraus folgt, daß der Mensch, wo die Rollenerwartungen ihn zu<br />
erschlagen drohen, zugleich jenen Abstand zu sich selbst verliert, der<br />
Vorbedingung jeder sinnvollen Verhaltensorientierung ist, also auch<br />
eines Widerstandsverhaltens. Wenn die Rollenvorschriften so engmaschig<br />
und sinnentleert werden, daß ein intentionaler Bezug auf<br />
einen Relevanzbereich und entsprechende Ich-Leistungen verhindert<br />
werden, wird dem Menschen eine von der Distanz noch verbürgte<br />
Identifikation unmöglich und er entfremdet sich seiner nunmehr bloß<br />
noch aufgezwungenen Rollenidentität. Deshalb ist Entfremdung eine<br />
Distanzierungsstörung im Rollenverhältnis, im Extremfall ein Distanzverlust<br />
überhaupt 25 . — Es gibt verschiedene Formen der Reaktion<br />
auf repressive, entfremdende Rollennormen: zunächst besteht<br />
die Möglichkeit des Ausweichens auf andere Rollen, wenn das gesellschaftlich,<br />
nämlich klassenspezifisch angebotene Rollenreservoir dazu<br />
ausreicht und die in Frage stehende Rolle überhaupt „verfügbar",<br />
das heißt nicht unwiderruflich aufgezwungen, ist. Es gibt zweitens<br />
die Möglichkeit, sein Engagement auf andere Rollen des eigenen Rollenhaushalts<br />
zu verlagern, was in der Regel zu einem ritualistischen<br />
Rollenverhalten führt. Drittens können aber die repressiven Rollennormen<br />
auch quasi umarmt und verinnerlicht werden, im Extremfall<br />
die gelungene Identifikation mit dem Aggressor. Neben diesen re-<br />
24 Vgl. Helmuth Plessner, Conditio Humana, Pfullingen 1964.<br />
25 Mein Haupteinwand gegen Frigga Haugs „Kritische Bemerkungen<br />
zu H. P. Dreitzels .Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens'"<br />
(<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>, Nr. 60, Dez. 1970, S. 217 ff.) ist, daß sie diesen Zusammenhang<br />
nicht gesehen hat, ja, meine Behandlung des Entfremdungsproblems<br />
zugunsten des Anomieproblems überhaupt unterschlagen hat. Aber auch<br />
Peter Furth kann sich mit einem Entfremdungsbegriff nicht befreunden,<br />
der sich nicht in unverbindlicher Allgemeinheit mit dem bloßen Hinweis<br />
auf den Warencharakter der Arbeit begnügt, sondern ihn einholt in das<br />
Rollenverhältnis selbst: in der Entfremdung von der eigenen Rollenidentität<br />
wird dem einzelnen die Entfremdung von den zugleich durch ihn<br />
(eben in seiner Rollenidentität) mit reproduzierten gesellschaftlichen Verhältnissen<br />
konkret. Entfremdung schrumpft hier also nicht, wie Furth,<br />
ohne sich näher darauf einzulassen, bündig meint, „auf einen Vorgang im<br />
Individuum zusammen" (op. cit., S. 509), sondern dieser Entfremdungsbegriff<br />
sucht im Individuum (als Leiden an der Gesellschaft) auf, was als<br />
ausbeuterische Aneigung der tendenzielle Warencharakter aller gesellschaftlichen<br />
Beziehungen durch die, freilich von ihm mit reproduzierten,<br />
ökonomischen Bestimmtheiten (die gesellschaftlichen Leiden) allemal schon<br />
ist.