Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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96 Michael Lukas Moeller<br />
Kranken schließen sich damit von der Versorgung auch selbst aus<br />
oder kommen erst mit jähre- bzw. jahrzehntelanger Verzögerung<br />
zum Arzt. Es sind Kranke, die nie oder zu spät Patienten werden.<br />
<strong>Das</strong> bedeutet: die Patienten sind nur die Spitze des Krankenstandes,<br />
die in die institutionalisierte Versorgung ragt. Die Mehrzahl bleibt<br />
unversorgt.<br />
2. In dieser reduzierten Klientel dürften arztaffine Konfliktkonstellationen<br />
und Patientengruppen überwiegen, arztaverse nur<br />
geringfügig vertreten sein. Die Versorgung ist selektiv, und zwar<br />
so sehr, daß Langner und Michael in einer Nachberechnung der<br />
Midtown Manhattan Study jede Repräsentativität der versorgten<br />
Kranken ablehnten (1963)*. Die Selektion ist weitgehend eine<br />
Schichtselektion.<br />
3. Durch das Überwiegen arztaffiner Konfliktformen und Patientengruppen<br />
wird eine konflikt- und schichtspezifische <strong>Theorie</strong>bildung<br />
gefördert. Da eine einmal gebildete <strong>Theorie</strong> wiederum die<br />
arztaffine Auswahl der Patienten bestimmt, d. h. die Versorgung<br />
steuert, bestätigt sich die <strong>Theorie</strong> im Sinne einer self-full-filling<br />
prophecy. Inwieweit z. B. — um bei der Psychotherapie zu bleiben —<br />
die Selektion von 74 % Oberschicht — gegenüber 3 % Unterschichtspatienten<br />
die <strong>Theorie</strong>bildung Freuds — z. B. das Konzept der Triebverdrängung<br />
— oder die Selektion von 25 % Oberschichtspatienten<br />
gegenüber 35 % Unterschichtspatienten die <strong>Theorie</strong>bildung Adlers —<br />
z. B. das Konzept der Organminderwertigkeit — beeinflußte, wäre zu<br />
prüfen (Ansbacher 1959). Es ist wahrscheinlich, daß die Selektion<br />
nicht nur <strong>für</strong> die Psychotherapie gilt (vgl. Strauß 1969). Wären die<br />
Selektionsprinzipien bekannt, ließe sich der in sich geschlossene Zirkel<br />
aufheben.<br />
3. Widersprüche zwischen Krankenverhalten und Krankenversorgung<br />
Es lassen sich nun Widersprüche zwischen der Organisation<br />
psychotherapeutischer Versorgung und dem Verhalten der psychisch<br />
Kranken aufzeigen:<br />
1. Die Psychotherapie bietet die Versorgung passiv an. Der Weg<br />
des Kranken zum Arzt ist damit vorgegeben. Dieses Angebot wird<br />
Kranken gemacht, die auf Grund ihrer Erkrankung selbst passiv, in<br />
ihrer Initiative gehemmt und verschlossen sind. Gerade bei jenen<br />
Kranken, in deren Übertragung Mißtrauen und Angst vorherrschen,<br />
dürfte ein vertrauensvolles therapeutisches Abwarten aber nicht<br />
ausreichen. Paradoxerweise werden im Verhältnis zwischen Versorgung<br />
und Kranken gerade bei dem Partner Orientierungskenntnis<br />
vorausgesetzt und aktives Entgegenkommen erwartet, der zu beidem<br />
weniger befähigt, wenn nicht unfähig ist. Der psychisch Kranke<br />
kann sich wegen geringerer Krankheitskenntnis (gerade bei psychischen<br />
Störungen) und wegen der psychologischen Abwehr seiner<br />
eigenen Krankheit besonders schlecht orientieren. Die komplexe<br />
* (ebenso Owen 1941 <strong>für</strong> die Chicago Studie von Faris, Dunham 1939)