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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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16 Rainer Seidel<br />

Gesellschaftliche Höherentwicklung bedeutet allgemein, daß der<br />

Mensch auf der Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte immer<br />

mehr seine Lebensverhältnisse bewußt gestaltet und damit auch<br />

immer weniger dem bloßen Walten der Natur ausgeliefert ist. Dies<br />

läßt sich auch <strong>für</strong> die Medizin zeigen. Speziell <strong>für</strong> den gesellschaftlichen<br />

Umgang mit den psychischen Störungen kann man vier historische<br />

Stufen unterscheiden: keine systematische Aktivität oder<br />

mythisch-irrationale Einstellung, Aufbewahrung der psychisch Gestörten,<br />

Behandlung, Prävention.<br />

Diese Stufen stellen in der gegebenen Reihenfolge eine Höherentwicklung<br />

dar. Wenn psychisch Gestörte völlig sich selbst überlassen<br />

sind oder gerade eben aufbewahrt werden, so bedeutet das ein<br />

Ausgeliefertsein gegenüber der Krankheit; dies spiegelt sich anschaulich<br />

in den magischen Vorstellungen, die in primitiven Kulturen oder<br />

auch im Mittelalter vorherrschten. Behandlung dagegen bedeutet<br />

schon einen bewußten aktiven Kampf gegen das Leiden und impliziert<br />

je nach den Erfolgen eine mehr oder minder große rationale<br />

Kontrolle über die natürlichen und sozialen Gegebenheiten, die die<br />

Krankheit bedingen. Eine vollständige Verhütung psychischer Störungen<br />

würde das Höchstmaß an gesellschaftlicher und individueller<br />

Freiheit gegenüber dem psychischen Leiden bedeuten. Dies wird —<br />

<strong>für</strong> die Medizin allgemein — von vielen Medizinern auch gesehen; so<br />

bezeichnete Koller in einem Grundsatzreferat anläßlich eines Kongresses<br />

die Präventivmedizin als den „Kern der Medizin der Zukunft"<br />

10 .<br />

Auch von den Voraussetzungen her bedeutet Prävention die höchste<br />

Stufe des Fortschritts im Bereich der menschlichen Gesundheit. Denn<br />

— wie später noch klar werden soll — Prävention setzt voraus a) ein<br />

besonderes Maß an Planung und Vorhersage, b) ein besonderes Maß<br />

an gesellschaftlicher Organisation und c) umfassende Kenntnis aller<br />

grundlegenden Ursachen psychischer Störungen. Diese Voraussetzungen<br />

bestehen auch <strong>für</strong> Behandlung schlechthin, <strong>für</strong> Prävention gelten<br />

sie jedoch noch in weitaus größerem Maße.<br />

2.2. Historischer Abriß<br />

Von einigen Ausnahmen abgesehen ll , hatten die Zeiten des Feudalismus<br />

bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht einmal<br />

eine systematisch betriebene Aufbewahrung der psychisch Gestörten<br />

hervorgebracht. Von den verschiedenen Gründen da<strong>für</strong> ist besonders<br />

zu erwähnen, daß kein ökonomischer Druck zur Wiederherstellung<br />

der Arbeitskraft der Kranken bestand; außerdem konnten Geisteskranke<br />

in den bäuerlichen oder handwerklichen Klein- und Familienbetrieben<br />

oft zu irgendeiner wenngleich erniedrigenden, so doch<br />

nützlichen Arbeit angehalten werden. Ähnliche Gründe spielen auch<br />

heute noch eine Rolle da<strong>für</strong>, daß in agrarischen Gebieten mehr Geisteskranke<br />

und Schwachsinnige in den Familien gehalten werden. Im<br />

10 Koller 1967, S. 17.<br />

11 s. Astrup 1956, S. 23; Alexander & Selesnick 1969, S. 89 ff.

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