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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Psychopathie? Soziopathie? 75<br />

führt in Unterschichtfamilien schließlich über die Vereinsamungsangst<br />

der Mütter (Rainwater 50, S. 48) zu inkonsistenten Überidentifizierungen<br />

der letzteren mit ihren Kindern, deren Beziehungen zu<br />

anderen Personen außerhalb der Familie aus dem gleichen Grunde<br />

unterbunden werden (Kerr) 49. McKinley 47 (S. 54) schreibt: „Die<br />

größere Straffreudigkeit und die häufigere Ablehnung des Kindes<br />

durch die Eltern niedrigerer Schichten ist eine Folge der größeren<br />

Frustation der Eltern und ihrer stärkeren Gefühle der Bedrohung.<br />

Die Aggression der Eltern wird vom frustierenden System (der Macht<br />

und Belohnungsstruktur der Industriegesellschaft) auf das relativ<br />

machtlose Kind verschoben." Bei der Mittel- und Oberschicht hingegen<br />

erlebe das Kind „einen höheren Austausch von erotischen Gratifikationen<br />

zwischen den Eltern, in deren Zusammenhang es aber<br />

einbezogen bleibt". Dies müsse seine Identifikationsbereitschaft mit<br />

dem auch in der Gattenrolle „bevorzugten" Mittelschichtvater erhöhen,<br />

und zwar um so mehr, als es die Eltern verbündet sieht in<br />

diesem wechselseitigen Austausch: eine ähnliche bevorzugte Position<br />

bei der Mutter ist nur zu erreichen durch Angleichung an den Vater<br />

(via Identifikation), eine Position, deren Gratifikation dann freilich<br />

erst in der eigenen Ehe eingeholt werden kann. Für das Kind der<br />

Unterschicht bringe Identifikation mit dem Vater weder emotionale<br />

noch erotische Vorteile. Im Gegenteil, es erlange tendenziell (bei brutalem<br />

Vater) eine größere Nähe zur Mutter bei geringerer Identifikation<br />

mit dem Vater (McKinley)".<br />

Die sozioökonomischen Verhältnisse erweisen sich also als der<br />

Boden, auf dem die Sozialisationspraktiken der inkonsistenten Bindungen,<br />

Affekte und Anforderungen gedeihen, die schließlich über<br />

inkonsistente Identifikationen mit isolierten Wesensmerkmalen der<br />

Eltern zu den lädierten Ich- und Über-Ich des Soziopathen führen.<br />

Daß es zu diesem Ergebnis kommt, ist allerdings nur durch eine zusätzliche<br />

Bedingung erklärbar. Unbegründete Strafen und ich-einschränkende<br />

Dressate konnten von früheren Generationen noch als<br />

notwendig angesehen werden, um aus ihren Kindern „disziplinierte"<br />

Arbeiter zu machen, die keine unnötigen Fragen stellten und mit<br />

ihrem Schicksal zufrieden waren. Ihr Verhalten war so noch in sich<br />

konsistent und konnte sich auf einer Basis liebevoller Fürsorge entfalten,<br />

die dem Kind die Möglichkeit ließ, sich auch noch mit strengen<br />

Eltern zu identifizieren. Gerade durch die Betonung der Aufstiegschance<br />

in der amerikanischen Gesellschaft wird aber die Unterschichtenkondition<br />

mit ihren psychischen, sexuellen und ökonomischen<br />

Einengungen nicht mehr als naturwüchsige Fatalität akzeptiert:<br />

weder von den Eltern noch von den Kindern (Rubenfeld* 1, S. 69<br />

bis 72). Zu den übrigen pathogenen Sozialstrukturen tritt also noch<br />

der cultural lag zwischen den rigiden Sozialisationspraktiken und<br />

den dynamisierten Sozialrollen hinzu. Die Entwicklung der Produktivkräfte<br />

würde heutzutage humanere Sozialisationspraktiken er-<br />

51 Rubenfeld, Seymour: Family of Outcasts. A New Theory of Delinquency.<br />

New York 1965.

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