01.12.2012 Aufrufe

Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

62<br />

Erich Wulff<br />

Psychopathie? - Soziopathie? *<br />

I Psychopathie<br />

A Zur Sozialgeschichte des Psychopathiebegriffs<br />

Nicht immer fiel der Personenkreis derer, die heute, je nach Schulmeinung,<br />

Psycho- oder Soziopathen genannt werden, in den Zuständigkeitsbereich<br />

der Psychiatrie. Ein Teil davon blieb, auch nachdem<br />

die Geisteskrankheit an der Schwelle des 19. Jahrhunderts sich als<br />

eigenes Objekt der im Verlaufe des 17. Jahrhunderts ausgegrenzten<br />

Unvernunft konstituiert hatte (Foucault 1; Dörner 2), den Beurteilungskriterien<br />

der Moral, Jurisprudenz und öffentlichen Ordnung<br />

überlassen, und dies nicht nur in der Praxis, sondern auch im öffentlichen<br />

Bewußtsein und in der wissenschaftlichen <strong>Theorie</strong>; ein anderer<br />

Teil galt weiterhin als körperlich krank, als schwächlich oder als<br />

besonders empfindsam. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts<br />

begann die psychiatrische Wissenschaft diese Personen in ihr nosologisches<br />

System einzubeziehen: dies geschah in Deutschland durch<br />

Griesinger 3 (1844), der die abnorme Gefühlskälte und Reizbarkeit<br />

mancher Menschen als „Zerebralirritation" analog den Sensibilitätsstörungen<br />

und Schmerzanfällen bei Neuralgien deutete: d. h. als<br />

pathologische Antwort eines vorgeschädigten Organs auf einen von<br />

ihm nicht mehr verkrafteten Reiz. In Frankreich sah Morel 4 (1857)<br />

die leichteren psychischen Abnormitäten als erste Stadien einer von<br />

Generation zu Generation sich vererbenden und zugleich im Schweregrad<br />

fortschreitende Degeneration an, an deren Ende, im psychischen<br />

Bereich, Verblödung oder Wahnsinn stand. Morels Lehre und ihre<br />

Fortführung durch Magnan 5 — der zwischen einer degenerativen<br />

„Grundbeschaffenheit" des Geisteszustandes und den darauf erwachsenden<br />

einzelnen „Syndromen" unterschied — fand damals überall<br />

* Prof. A. Derwort, der mir Psychiatrie beigebracht hat und bei politischen<br />

Diffamierungen immer <strong>für</strong> mich eingetreten ist, zu seinem 60. Geburtstag.<br />

1 Foucault, Michel: L'histoire de la folie. Pion, Paris 1961.<br />

2 Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M.<br />

1969.<br />

3 Griesinger, Wilhelm: Neue Beiträge zur Physiologie und Pathologie<br />

des Gehirns, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, S. 53. Berlin 1872.<br />

4 Morel, B. A.: Traité des dégénérescences physiques, morales et intellectuelles<br />

de l'espèce humaine. Paris 1857.<br />

5 Magnan, Valentin: Psychiatrische Vorlesungen. Übers, v. P. J. Möbius.<br />

— Über die Geistesstörung der Entarteten. Leipzig 1892.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!