Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Erich Wulff<br />
Psychopathie? - Soziopathie? *<br />
I Psychopathie<br />
A Zur Sozialgeschichte des Psychopathiebegriffs<br />
Nicht immer fiel der Personenkreis derer, die heute, je nach Schulmeinung,<br />
Psycho- oder Soziopathen genannt werden, in den Zuständigkeitsbereich<br />
der Psychiatrie. Ein Teil davon blieb, auch nachdem<br />
die Geisteskrankheit an der Schwelle des 19. Jahrhunderts sich als<br />
eigenes Objekt der im Verlaufe des 17. Jahrhunderts ausgegrenzten<br />
Unvernunft konstituiert hatte (Foucault 1; Dörner 2), den Beurteilungskriterien<br />
der Moral, Jurisprudenz und öffentlichen Ordnung<br />
überlassen, und dies nicht nur in der Praxis, sondern auch im öffentlichen<br />
Bewußtsein und in der wissenschaftlichen <strong>Theorie</strong>; ein anderer<br />
Teil galt weiterhin als körperlich krank, als schwächlich oder als<br />
besonders empfindsam. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts<br />
begann die psychiatrische Wissenschaft diese Personen in ihr nosologisches<br />
System einzubeziehen: dies geschah in Deutschland durch<br />
Griesinger 3 (1844), der die abnorme Gefühlskälte und Reizbarkeit<br />
mancher Menschen als „Zerebralirritation" analog den Sensibilitätsstörungen<br />
und Schmerzanfällen bei Neuralgien deutete: d. h. als<br />
pathologische Antwort eines vorgeschädigten Organs auf einen von<br />
ihm nicht mehr verkrafteten Reiz. In Frankreich sah Morel 4 (1857)<br />
die leichteren psychischen Abnormitäten als erste Stadien einer von<br />
Generation zu Generation sich vererbenden und zugleich im Schweregrad<br />
fortschreitende Degeneration an, an deren Ende, im psychischen<br />
Bereich, Verblödung oder Wahnsinn stand. Morels Lehre und ihre<br />
Fortführung durch Magnan 5 — der zwischen einer degenerativen<br />
„Grundbeschaffenheit" des Geisteszustandes und den darauf erwachsenden<br />
einzelnen „Syndromen" unterschied — fand damals überall<br />
* Prof. A. Derwort, der mir Psychiatrie beigebracht hat und bei politischen<br />
Diffamierungen immer <strong>für</strong> mich eingetreten ist, zu seinem 60. Geburtstag.<br />
1 Foucault, Michel: L'histoire de la folie. Pion, Paris 1961.<br />
2 Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M.<br />
1969.<br />
3 Griesinger, Wilhelm: Neue Beiträge zur Physiologie und Pathologie<br />
des Gehirns, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, S. 53. Berlin 1872.<br />
4 Morel, B. A.: Traité des dégénérescences physiques, morales et intellectuelles<br />
de l'espèce humaine. Paris 1857.<br />
5 Magnan, Valentin: Psychiatrische Vorlesungen. Übers, v. P. J. Möbius.<br />
— Über die Geistesstörung der Entarteten. Leipzig 1892.