Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Psychopathie? Soziopathie? 77<br />
sein. „Mittelschichten" neigen zu ihrer eigenen Art von Stereotypisierung<br />
und Normenkonformität; z. B. dürfte bei ihnen ein stärkerer<br />
Konformitätsdruck vorliegen, ihre sexuellen Beziehungen zum Partner<br />
zufriedenstellend zu finden als bei der Unterschicht, d. h. darin<br />
nicht nur dem Interviewer — in unserem Falle Rainwater 50 —, sondern<br />
gegebenenfalls auch dem Partner und sich selber etwas vorzumachen.<br />
Aber auch jenseits solcher methodischer Schwierigkeiten<br />
wird die Frage, zu welchen eigenen Zwängen, Deformationen und<br />
Ängsten eine typische Mittel- und Oberklassen-Sozialisation führt, in<br />
allen zitierten Arbeiten kaum je gestellt. Ob dazu nicht die Verschleierung<br />
von Widersprüchen, die Glättung von Konflikten durch<br />
verbale Erledigungsriten, die zwangshafte Überidentifikation mit<br />
dem Vater und vieles andere gehört, was zu einer eigenen psychischen<br />
Leidensform, der Normopathie, der sadomasochistisch identifikatorischen<br />
Unterwerfung unter die jeweils angebotenen Konventionen,<br />
Normen und Werte führt? Spießermief, Hobbykult, die eingezäunten<br />
kleinen Freiheiten und die begrenzten Ausbrüche, die<br />
Grüne-Witwen-Zivilisation und die Coctailkommunikation, der milde<br />
Alkoholismus und der milde Beruhigungsmittelmißbrauch, die kanalisierte<br />
Kontaktmoral und der ihr entsprechende soziale Autismus<br />
außerhalb von vorprogrammierten Situationen, das sind doch wohl<br />
kaum Zeichen psychischer Gesundheit? In der Angleichungsforderung<br />
an die Mittelschicht, deren eigene psychische Gesundheit nicht<br />
in Zweifel gezogen wird, zeigt sich eine Art von wohlstandsgesellschaftlichem<br />
Reformismus als Ideologie der meisten Soziopathieautoren.<br />
Damit zusammen hängt, daß in keiner Untersuchung auch nur<br />
die Frage gestellt wird, wieso es Mittel- und Unterschichtverhältnisse<br />
überhaupt gibt und ob sie sich nicht gegenseitig bedingen, d. h. letztlich<br />
auf der Grundlage des gesamten ökonomischen und politischen<br />
Systems erwachsen. Wäre das letztere der Fall, so erwiese sich die<br />
Forderung nach Mittelschichtverhältnissen <strong>für</strong> alle innerhalb der<br />
kapitalistischen Gesellschaft als eine Illusion, die zugleich zu einem<br />
Werkzeug des Krisenmanagements werden kann. Um vom Grundwiderspruch<br />
der kapitalistischen Gesellschaft nicht sprechen zu müssen,<br />
haben die amerikanischen Autoren vielleicht auch darauf verzichtet,<br />
eventuellen gemeinsamen sozialen Ursachen der spezifischen<br />
Brutalität der Unterschichtsbeziehungen und der spezifischen Schemheiligkeit<br />
der Mittelschichtsbeziehungen nachzugehen. Wenn man<br />
noch mehr ins Detail der Analyse der sogenannten Mittelklassentugenden<br />
geht, z. B. der Kreativität, Autonomie, Initiative, Sensibilität,<br />
inneren Dynamik (Kohn) i2 — was wird aus diesen Tugenden,<br />
wenn sie nicht verwurzelt sind in der Teilnahme an den fundamentalen<br />
gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, was wird aus ihnen in den<br />
USA und der Bundesrepublik, wo in den meisten Betrieben die Mitbestimmung<br />
der Arbeiter hinsichtlich der Technik und der ökonomischen<br />
Verwertung ihrer Produktion noch weit von ihrer Verwirklichung<br />
entfernt ist? Unter diesen Bedingungen wird „kreative"<br />
Arbeit zu einem mehr oder weniger zufriedenstellenden Hobby, in