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Katalog 2013.pdf - Visions du Réel

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236 focus liban<br />

Die territorien<br />

libanesischer<br />

Dokumentarfilme<br />

heute<br />

Wie sind Grenzen heute zu<br />

begreifen Ist es in einer<br />

Zeit, in der sich die geografischen,<br />

wirtschaftlichen,<br />

politischen und sprachlichen<br />

Grenzen ständig neu bilden<br />

und wieder auflösen, noch<br />

möglich, von nationalem Kino<br />

zu sprechen Eine überaus<br />

relevante Frage im Zusammenhang<br />

mit dem Thema Kino<br />

im Libanon, einem Land, in dem<br />

der Begriff der Grenze von<br />

besonderer, nicht selten<br />

brisanter und stets aktueller<br />

Bedeutung ist.<br />

Der Libanon Ein Staat viermal kleiner<br />

als die Schweiz mit 4 Millionen Einwohnern<br />

und einer umfangreichen Diaspora.<br />

Diese ausserhalb der Landesgrenzen<br />

lebende Gemeinschaft zählt zahlreiche<br />

Künstler und Filmemacher. Das sogenannte<br />

«libanesische» Kino ist folglich<br />

nicht als territorial gebundenes Kino zu<br />

begreifen. Denn Zugehörigkeit ist ein<br />

aus dem rein geografischen Kontext<br />

herausgelöster, mit einem fast unsichtbarem,<br />

aber sehr starkem seidenen<br />

Faden vergleichbarer Gedanke. Die Festigkeit<br />

dieses Fadens ist ohne Zweifel<br />

proportional zur Geschichte des Libanon<br />

und den Wechselfällen des Lebens,<br />

mit denen seine Einwohner konfrontiert<br />

sind. Mehrere Zivilisationen haben im<br />

Laufe der Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen,<br />

den multikulturellen, und mit<br />

18 anerkannten Glaubensgemeinschaften<br />

multikonfessionellen Charakter des<br />

Landes geprägt, und auf diese Weise zur<br />

Einzigartigkeit dieses Staates im Nahen<br />

Osten beigetragen.<br />

In seiner jüngeren Geschichte hat der<br />

Libanon nach seiner Unabhängigkeit<br />

1943 eine Zeit des Wirtschaftswachstums<br />

und der politischen Stabilität erlebt,<br />

die ihn zum Schmuckstück der Region<br />

gemacht hat. Der Besuch Beiruts mit<br />

seiner einzigartigen Energie, dem reichen<br />

Kulturleben und dem brodelnden<br />

Nachtleben wurde zu einem Muss und<br />

verhalf der Stadt zum Spitznamen «Paris<br />

des Nahen Ostens». Dann war plötzlich<br />

mit einem Mal alles vorbei: Der Ausbruch<br />

des Bürgerkriegs 1975 bewirkte einen<br />

drastischen Umbruch in der Realität des<br />

Landes. Die sechzehn Jahre, in denen<br />

der Konflikt wütete, haben unauslöschliche<br />

Spuren hinterlassen. Diese Narben<br />

wurden 2006 <strong>du</strong>rch den israelisch-libanesischen<br />

Krieg wieder aufgerissen. Die<br />

Wunden des Krieges sind allgegenwärtig:<br />

In den Strassen, an den Gebäuden,<br />

am Land und in der Stadt… Am tiefsten<br />

und komplexesten sind jedoch die<br />

Spuren, die er in der Bevölkerung hinterlassen<br />

hat. Und die sich in unterschiedlicher<br />

Form im libanesischen Kino<br />

wiederfinden. Ein Land mit einer derart<br />

stürmischen, ereignisreichen Geschichte<br />

prägt unweigerlich den Blick der<br />

Autoren.<br />

Kino als Kunst und Werkzeug<br />

Der Fokus auf dem Libanon bietet zum<br />

einen die Gelegenheit, der Beziehung<br />

zwischen den Filmemachern und der<br />

libanesischen Identität auf den Grund zu<br />

gehen, zum anderen, die unterschiedlichen<br />

Fragen zu begreifen, die mittels<br />

formaler oder thematischer Entschei<strong>du</strong>ngen<br />

gestellt werden und zur Aufarbeitung<br />

der Ereignisse beitragen.<br />

Die Vielzahl von Blicken wird zwangsläufig<br />

mit den Nachkriegstraumata konfrontiert.<br />

Ein tiefes Bedürfnis, Fragen<br />

zu stellen und weniger das Bedürfnis,<br />

Antworten zu geben. Der Dokumentarfilm<br />

dient zugleich als Lupe, mit der gesehen<br />

und beobachtet werden kann, was<br />

lange unsichtbar war, und als Werkzeug<br />

für eine Rekonstruktion: der Geschichte,<br />

des Gedächtnisses, der Identität. Eine<br />

notwendige und manchmal schmerzhafte<br />

Arbeit gegen das Vergessen, diesen<br />

gefährlichen, auf die Neuzusammensetzung<br />

von Identität und Geschichte einwirkenden<br />

Feind. Die Energie und die<br />

Dringlichkeit des libanesischen Filmschaffens<br />

sind auch dazu da, Dinge<br />

sicht- und hörbar zu machen, um Tatsachen<br />

festzuhalten und sie ins Bewusstsein<br />

zu rücken, und zu identifizieren, was<br />

nie wieder geschehen sollte. Sonst droht<br />

der Krieg weiter an den Seelen zu nagen<br />

und die Ängste zu nähren.<br />

Autoren mit einer prägnanten Handschrift<br />

wie Ghassan Salhab, Joana Hadjithomas<br />

und Khalil Joreige, Simon El<br />

Habre, Danielle Arbid, Maher Abi Samra,<br />

Nadim Mishlawi oder Zeina Sfeir – um<br />

nur einige zu nennen – sind Teil dieses<br />

Widerstands gegen das Schweigen,<br />

gegen die Amnesie, und ermöglichen<br />

das Festhalten der Geschichte des<br />

Landes und das Finden von Bildern und<br />

Wörtern, die fehlen oder im Chaos der<br />

traumatischen Erlebnisse und Ruinen<br />

verloren gegangen sind. Alle folgen<br />

sie eigenen, jedoch stets mit konkreten<br />

filmischen Vorschlägen verbundenen<br />

Ansätzen und stellen Fragen, die

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