Katalog 2013.pdf - Visions du Réel
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focus liban<br />
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74<br />
zur Konfrontation mit der Vergangenheit<br />
ermutigen, um sich in der Gegenwart<br />
behaupten zu können. Fragen, die oft<br />
schwierig sind, mittels derer aber gleichzeitig<br />
das Wort erteilt und die Möglichkeit<br />
gegeben wird, Dinge in Worte zu<br />
fassen und das während des Konflikts<br />
Erlittene mitzuteilen. Ein leidenschaftliches<br />
und emotionsreiches, dem Leben<br />
zugewandtes Kino. Gleichzeitig aber<br />
auch ein oft kathartisch wirkendes Kino,<br />
das die Kamera gleich einer Sonde zur<br />
Freisetzung verdrängter Affekte einsetzt.<br />
Autoren, die teils ohne es zu wollen zu<br />
Wiederherstellern der indivi<strong>du</strong>ellen und<br />
kollektiven Identität werden und verlorene<br />
Territorien (re)konstruieren.<br />
Aufzeichnung einer Stadt<br />
Beirut, Stadt der Paradoxe – einzigartig<br />
und überschäumend, übel zugerichtet<br />
und wiederauferstanden – wird in zeitgenössischen<br />
libanesischen Filmen zu<br />
einer emblematischen und immer wiederkehrenden<br />
Figur. Die Hauptstadt<br />
des Landes übernimmt die Rolle des<br />
Katalysators der kollektiven Fragen: Die<br />
Szenen des Umherwanderns in der Stadt<br />
haben die Funktion, die Identität eines<br />
Landes und eines Volkes zu erkunden.<br />
Beirut sehen und filmen, um sich selbst<br />
und die anderen zu sehen: das städtische<br />
Gefüge und seine Ruinen als Spiegel<br />
der Realität, als Wesen, dem man<br />
den Puls nimmt und das Herz abhört.<br />
Man entdeckt ein Beirut, das einer Dame<br />
mit unzähligen Facetten gleicht: Mit den<br />
Jahren und den Ereignissen schwankt<br />
sie zwischen Eleganz und Vernachlässigung,<br />
Überschwang und Apathie, Ruhm<br />
und Dekadenz, kosmopolitischen und<br />
sektiererischen Anwandlungen. Ein Konzentrat<br />
der Paradoxe, das – so sagt man<br />
– ein Land und seine Geschichte widerspiegelt.<br />
Nicht zuletzt ist es diese Schizophrenie,<br />
die die Leidenschaften nährt,<br />
ausufern lässt und die kreative Energie<br />
stimuliert, die sich laut und deutlich in<br />
den filmischen Vorschlägen ausdrückt.<br />
Ein Kino jenseits der Grenzen<br />
Dem libanesischen Kino ist es immer<br />
gelungen, sich wieder von den Unwägbarkeiten<br />
der Geschichte des Landes<br />
zu erholen. Obgleich auf die Blütezeiten<br />
der In<strong>du</strong>strie weitaus schwierigere Jahre<br />
folgten. Und es ist ebenfalls wichtig, im<br />
jüngeren libanesischen Filmschaffen<br />
den Ausdruck einer Anthropologie der<br />
«Überlebenden» zu sehen. Das Überleben<br />
in diesem künstlerischen Kontext<br />
drückt weit mehr aus als ein Überleben<br />
des Krieges – besonders dann, wenn die<br />
systematische Dekonstruktion der sozialen<br />
Werte und der organisatorischen<br />
Strukturen in Betracht gezogen werden.<br />
Dem libanesischen Film ist es gelungen,<br />
sich in einem Klima der ständig wiederkehrenden<br />
Instabilität zu entwickeln,<br />
und er zeugt von der bemerkenswerten<br />
Lebendigkeit des Blicks der Autoren.<br />
Auf internationaler Ebene waren mit<br />
wachsender Regelmässigkeit Werke des<br />
libanesischen Dokumentarfilms zu beobachten,<br />
die von Kritik und Publikum gleichermassen<br />
begeistert aufgenommen<br />
wurden. Inzwischen kann das libanesische<br />
Kino zudem auf eine regelmässige<br />
Zusammenarbeit mit externen Strukturen<br />
zählen, hervorgegangen aus der<br />
klassischen Vereinigung künstlerischer<br />
Affinitäten mit den Bedürfnissen einer<br />
nach wirtschaftlicher und logistischer<br />
Unterstützung strebenden Filmin<strong>du</strong>strie.<br />
Aus all diesen Gründen schien es uns<br />
nur logisch, dem Libanon bei <strong>Visions</strong><br />
<strong>du</strong> Réel einen besonderen Platz einzuräumen.<br />
Ohne Zweifel teilen wir den<br />
Wunsch, sowohl besser zu sehen als<br />
auch mehr zu zeigen. Wir sind der Überzeugung,<br />
dass die vom Festival angebotene<br />
Auswahl neuerer Filme ebenso<br />
wie die Präsenz mehrerer libanesischer<br />
Autoren und Pro<strong>du</strong>zenten die Gelegenheit<br />
zu einem anregenden Austausch<br />
sowie Wegbereiter neuer internationaler<br />
Partnerschaften sein werden. Womit<br />
einmal mehr der Beweis erbracht wird,<br />
dass Grenzen vor allem dazu da sind,<br />
überwunden zu werden.<br />
Jasmin Basic