Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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272 Besprechungen<br />
"Teil 2: Jugendarbeit" besteht aus neun Einzelbeiträgen (von der Bedeutung<br />
Bernfelds für eine sozialistische Schülerbewegung bis hin zu einer Kritik an der<br />
Didaktik gewerkschaftlicher Jugendbildungsarbeit).<br />
Leider werden die <strong>Diskussion</strong>en um Klassenanalyse/Klassenstruktur, die in<br />
der sozialistischen Arbeiterbewegung wie unter marxistischen Wissenschaftlern<br />
in den letzten Jahren stattgefunden haben, von den Autoren nicht rezipiert. Als<br />
die "revolutionären Potentiale" werden recht allgemein die jugendlichen "industrielle(n)<br />
Lohnarbeiter und Lehrlinge" bestimmt, weil diese "den kap. Ausbeutungsmechanismus<br />
unmittelbar am eignen Leib erfahren" (164). "Fundamental<br />
verschieden" (165) davon seien die Oberschüler, für deren Masse eine "präventive<br />
Neutralisierung" (Liebe!, 168) angestrebt werden müsse. Der Minderheit unter<br />
ihnen weist Liebel folgende Aufgabe zu: "Eine intakte revolutionäre Arbeiterbewegung<br />
... existiert heute nicht. Sie ist erst zu schaffen. Und der Schülerbewegung<br />
kann hierbei durchaus eine wichtige Funktion zufallen: die Organisierung<br />
der jungen Arbeiter und Lehrlinge, der Berufsschüler." (141)<br />
Im Aufsatz "Arbeiterjugend und Klassenbewußtsein" wird der Anspruch erhoben,<br />
zu bestimmen, "welche Faktoren die Ausbildung von Klassenbewußtsein<br />
in der Arbeilerjugend fördern und hemmen und in welchem Zusammenhang ...<br />
diese Faktoren wirksam werden." (l09) Der Inhalt von Klassenbewußtsein<br />
drückt sich in der Durchbrechung der "Mystifikationen des Kapitalverhältnisses"<br />
(10) aus.<br />
Auf dieses sehr allgemeine ökonomistische Konzept folgt die Analyse der<br />
"Bedingungsfaktoren für Klassenbewußtsein" bei der Arbeiterjugend (109 ff.): 3<br />
besonders "günstigen" werden 3 "ungünstige" Bedingungen gegenübergestellt.<br />
Geleistet wird nicht mal ansatzweise eine konkret-historische Analyse des ökonomischen<br />
und politischen Systems, zu realen Erscheinungsformen der Klassenauseinandersetzung<br />
bleibt dieses mechanistische Faktorenschema unvermittelt;<br />
der Entwicklungszusammenhang von Klassenbewußtsein wird reduziert auf die<br />
unmittelbare subjektive Erfahrung bzw. sogar als ein wesentlich psychologisches<br />
Problem dargestellt: ,,Ist einmal die ... psychische Barriere durchbrochen, so<br />
treibt gerade die besonders hohe Ausbeutung besonderen Haß gegen das Kapital<br />
hervor." (120). Und am Ende steht noch die Behauptung, daß wegen der<br />
"Rechtlosigkeit der Arbeiterjugend im Betrieb ... nahezu jede Forderung, die<br />
die Arbeiterjugend durchsetzen will, in eine politische Forderung umschlägt.'·<br />
(120) Zwar arbeitet Lessing (85 ff.) die Notwendigkeit der "Selbständigkeit der<br />
proletarischen Jugend und deren organisatorischer Ausdruck (als) ein konstituierendes<br />
Prinzip" (99) heraus, aber jeder Bezug zu konkret bestehenden Arbeiterjugendorganisationen<br />
der BRD fehlt ebenso wie die Differenzierung in ökonomische<br />
(Gewerkschaften) und politische Organisation.<br />
Wie steht es weiter mit der Problematik des Verhältnisses von politischer und<br />
pädagogischer Praxis? Viele richtige Forderungen: "... müßte sie auf der subjektiven<br />
Ebene das Interpretations- und Artikulationsvermögen ... entwickeln",<br />
"Elemente solidarischer Beziehungen und kollektiver Identitäten fördern" usw.<br />
(160). Wie das allerdings umzusetzen ist, darauf geben die Verfasser nirgends<br />
eine Antwort. Liebel schreibt sehr richtig: "Das adäquate Verhältnis von politischer<br />
und pädagogischer Praxis stellt sich nicht naturwüchsig her. Es muß selber<br />
organisiert werden." (178)<br />
Und fährt fort: "Hierzu müßten die entsprechenden Überlegungen ... diskutiert<br />
und weitergeführt werden." (179) (Geschrieben 1971). Eine halbwegs befriedigende<br />
Antwort steht bis heute aus.<br />
Helga Karl (Regensburg)<br />
DAS ARGlTMENT 10"lQ77 ©