Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Wissenschaftlicher <strong>Sozialismus</strong> braucht Demokratie 193<br />
innerorganisatorischer Demokratie zu beschäftigen. Sofern nicht mehr allein eine<br />
Partei oder eine sozialistische Bewegung, sondern vielmehr die ganze Gesellschaft<br />
auf der Grundlage materialistischer Erkenntnis entwickelt werden soll, ist<br />
die Demokratie-Frage in gesamtgesellschaftlicher Dimension gestellt. Friedrich<br />
Tomberg hat ja bereits angedeutet, daß aus der geschichtlichen Entwicklung der<br />
kommunistischen Parteien und ihrer inneren Verfassung (besonders während<br />
der Stalin-Zeit) Barrieren für marxistische Erkenntnis und die Hinwendung von<br />
Intellektuellen zu <strong>Theorie</strong> und Praxis des wissenschaftlichen <strong>Sozialismus</strong> entstanden<br />
sind. Sein Gedanke über den Vorrang des sozialistischen Kollektivs gegenüber<br />
dem Individuum bleibt jedoch methodisch konsequenzlos, wenn das<br />
Kollektiv mit seinen inneren Prozessen im Verlaufe seiner Argumentation eher<br />
den Status einer Randbedingung für das Verhalten der Intellektuellen zur Arbeiterbewegung<br />
erhält. Der Abbildung der Beziehung von Intellektuellen und Bewegung<br />
in der Metapher von "Kopf' und "Rumpf' liegt offensichtlich eine Auffassung<br />
zugrunde, in der Erkenntnis zur Aufgabe der Intellektuellen reduziert<br />
ist. In ihrem Denken und Verhalten sind sie mehr oder weniger auf sich selbst<br />
gestellt. Daß Vorschläge zur Lösung des Konflikts, Aufforderungen zur Veränderung<br />
stets nur an die I ntellektuellen und nicht an die Kollektive gestellt werden,<br />
liegt ebenso in der Konsequenz dieser Konstruktion wie die Rede vom "inneren<br />
Austragen der Widersprüche" (Tomberg. S. 641). Das gefährliche in dieser<br />
Behandlungsweise liegt darin, daß die Kollektive selbst keine nützlichen Konsequenzen<br />
mehr ziehen können. in der "Intellektuellen-Frage" kein generelleres<br />
Problem ihrer Gesamtpolitik mehr erkennen, die Schwierigkeiten ihrer eigenen<br />
Bewegung als bloße Fehler und Abweichungen "ihrer Renegater," verkennen<br />
mögen. Eine solche Rezeptionsweise verdient auch deshalb unsere Aufmerksamkeit,<br />
weil sie in der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung Tradition hat,<br />
Denken und Handeln der heute zur Bewegung stoßenden Intelligenz - wie auch<br />
aller anderen Mitglieder - nicht unerheblich beeinflussen dürfte. Sie findet in<br />
Tombergs Argumentation ein Pendant in der Loslösung des Intellektuellen-Begriffs<br />
von der sozialen Gruppe und den sozialen Interessen der Intelligenz. Er<br />
bleibt damit hinter den Ursachen studentischer und intellektueller Massenbewegungen<br />
zurück. Diese können weder vom Ausgangspunkt individualisierter Warenbesitzer-Existenz<br />
allein, noch mit der Perspektive des abstrakten "Sich-aufden-Standpunkt-der-Arbeiterbewegung-Stellens"<br />
adäquat abgehandelt werden.<br />
Die auf den einzelnen zentrierte und von wesentlichen sozialen Voraussetzungen<br />
abstrahierende Sichtweise führt zu einer falschen Begründung der von Tomberg<br />
anvisierten Perspektive eines "westeuropäischen <strong>Sozialismus</strong>". Wo diese<br />
vorrangig durch die Allgemeinheit "individualistisch geformter Bedürfnisse der<br />
Menschen" (Tomberg, S. 643) begründet erscheint, geht der politisch zentrale<br />
Gedanke, daß mit dem Konzept eines <strong>Sozialismus</strong>, "in dem die bürgerlichen<br />
Freiheiten nicht einfach außer Kraft gesetzt werden müssen, sondern schon in<br />
hohem Maße von den Beschränkungen des Kapitalismus befreit sich verwirklichen<br />
können" (Tomberg, S. 644), gerade den Erfordernissen einer kollektiven<br />
Massendemokratie und der bewußten gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung<br />
getragen werden soll2, verloren.<br />
DAS ARGUMENT 102/1977 ©