Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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254 Besprechungen<br />
von Disziplinen zu stützen ist" (35), Sylvia Zisterer dazu verleitet, die Probleme<br />
der Entwicklungsgeschichte menschlicher Sprache so pluralistisch auszubreiten -<br />
und so wenig zu verarbeiten. Sehr sorgfältig referiert sie zwar die verschiedenen<br />
Forschungsergebnisse, wie jedoch "Sprache-Arbeit-Gesellschaft als sich in ihrer<br />
Entwicklung gegenseitig bedingende Faktoren begriffen werden müssen" (194),<br />
wird durch den Gang der Untersuchung kaum verständlich, daran hindert sie<br />
auch ihr eigenes methodisches Konzept. Noch beschränkter als Zisterer arbeitet<br />
Werner van de Voort bei seinem Versuch, mit G. H. Mead über Piaget zum<br />
Aufweis eines dialogischen Handlungsprozesses in Frühstadien der Entwicklung<br />
.des Kindes zu kommen. Wohl wird die Bedeutung von Vorformen kommunikativen<br />
Handeins erkennbar, auch wird die Kritik an Piagets Egozentrismus stellenweise<br />
richtig angesetzt, was an der Arbeit jedoch materialistisch sein soll, ist<br />
gänzlich unerkennbar.<br />
In den Beiträgen des III. Kapitels ("Sprache und Wirklichkeit") geht es vor allem<br />
um die Bedeutungsentstehung im Sprachgebrauch, kaum um das Verhältnis<br />
von Sprache und gesellschaftlicher Produktion. Trotz der stark bedeutungstheoretischen<br />
Akzentuierung wird die "Wirklichkeit" am wenigsten in Ulrich<br />
Schmitz' Beitrag auf den Kopf gestellt. Die Dialektik zwischen realer und sprachlicher<br />
Bedeutung wird überzeugend analysiert, schlüssig scheint mir ebenfalls die<br />
Kritik und Erweiterung von Ansätzen der sowjetischen kulturhistorischen Schule.<br />
Schmitz gehört zu den wenigen in diesem Buch, die den materialistischen<br />
Anspruch ernst nehmen. Einen völlig anderen Ausgangspunkt nimmt Rolf Zimmermann.<br />
Er versucht den späten Wittgenstein für die materialistische Sprachtheorie<br />
zu gewinnen. Wie aber die Sprachtheorie des Historischen Materialismus<br />
auf der Grundlage der Wittgensteinsemantik zu entwickeln Ist, wie "eine wechselseitige<br />
Aneignung von Histomat und Sprachtheorie" (294) aussehen soll,<br />
bleibt ganz im Dunkeln, weil die gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Probleme<br />
entweder ausgeklammert oder mit diffusen Begriffen ("Gegebenheiten")<br />
zugedeckt werden.<br />
Insgesamt also ein enttäuschendes Buch. Das hängt vor allem damit zusammen,<br />
daß der gesellschaftstheoretische Ansatz der Autoren (sofern er überhaupt<br />
kenntlich gemacht wird), kaum zu überzeugen vermag. Die Autoren nehmen<br />
<strong>Theorie</strong>stücke aus Interaktionismus und Kritischer <strong>Theorie</strong> und argumentieren<br />
dann fast durchgehend auf der Grundlage der analytischen Philosophie. Eine<br />
Folge davon ist, daß entweder sprachWissenschaftliche Teilbereiche unter Berufung<br />
auf die analytische Philosophie als Sprachtheorie ausgegeben werden, dann<br />
bleibt vom materialistischen Ansatz rein gar nichts mehr (so exemplarisch Gabriel<br />
Falkenberg); oder es werden sprachWissenschaftliche Einzelthemen mit einer<br />
(auf I' /. Seiten!) "gegenüber Marx erweiterten Konzeption des historischen Materialismus"<br />
(235) behandelt, dann verkommt der historische Materialismus an<br />
der Oberfläche (so beispielhaft Max Looser).<br />
Nur wenige Autoren entgehen diesem Dilemma. Entgegen jedem materialistischen<br />
<strong>Theorie</strong>verständnis arbeiten fast alle ohne empirische Grundlage; keinem<br />
gelingt es an Irgend einer Stelle, didaktische oder politische Bezüge wirklich<br />
Sichtbar zu machen; die Voraussetzungen, Methoden und Ziele des historischen<br />
Materialismus werden also sträflich vereinfachend diskutiert. Weil es materialistische<br />
<strong>Theorie</strong> forsch vorspiegelt oder kurzerhand negiert, hat das Buch seinen<br />
materialistischen Anspruch verfehlt. Es hieße besser: Interaktionistische Linguistik.<br />
Klaus Schüle (Bremen)<br />
DAS ARGUMENT 102/1977 ©