Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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294 Besprechungen<br />
sich mit blanker, zumeist begriffsloser Polemik gegen alles, was sich mit dem<br />
Namen Stalins assoziieren läßt, so wehren die anderen schon den Versuch, die<br />
historische Entwicklung der Sowjetunion zwischen 1930 und 1956 nicht bloß affirmativ<br />
nachzuzeichnen, als antikommunistische Rancune ab. Eine dritte Variante<br />
"linker Vergangenheitsbewältigung" , die, borniert genug, Stalin hochleben<br />
läßt, aber zugleich das Erbe seiner Politik als "Sozialimperialismus" diffamiert,<br />
stellt sich von vornherein jenseits dessen, was rationaler Argumentation zugänglich<br />
ist.<br />
Wolters Buch will in dieser Situation einen neuen Anfang wissenschaftlicher<br />
Auseinandersetzung und politischer <strong>Diskussion</strong> markieren. Daß ihm dies nur<br />
halb gelungen ist, soll vorweg gesagt werden. Vieles bereits Bekannte wird hier<br />
lediglich in leicht modifiZierter Gestalt wieder aufgetischt. So ist Wolters These<br />
von der "Entwicklung des Marxismus von einer Wissenschaft zur Ideologie"<br />
nichts als eine Abart des schon vor Jahren von Oskar Negt formulierten Theorems<br />
vom Marxismus als einer "Legitimationswissenschaft" . Auch die These,<br />
die Bolschewiki hätten sich nach dem Oktoberumsturz in dem Dilemma befunden,<br />
"anstelle des Proletariats proletarische Politik in einer nicht-proletarischen<br />
Gesellschaft machen zu müssen" (125), ist alles andere als neu.<br />
Zu den Thesen dieses Buches gehört, daß es eine Kontinuität im Politik- und<br />
Strategieverständnis der Ir. Internationale und des Leninismus gegeben habe.<br />
Nicht so sehr Lenins Marx-Rezeption wird, wie vielfach üblich, als eine der wesentlichen<br />
ideologischen "Grundlagen des Stalinismus" namhaft gemacht, sondern<br />
vor allem Lenins Auffassung von der Rolle des Staats und der revolutionären<br />
Partei bei der sozialistischen Transformation der russischen Gesellschaft. So<br />
wie für den lassalleanischen Reformsozialismus, der sich innerhalb der Sozialdemokratie<br />
mit dem Marxismus prekär amalgamierte, der (preußische) Staat eine<br />
zentrale Rolle im politischen und strategischen Kalkül spielte (45), so ist es im<br />
Falle Lenins und der Bolschewiki gleichfalls der (russische) Staat, auf den sich<br />
das revolutionäre Interesse vorab richtet (89 ff.). Nach dem Hinweis, Lenins Imperialismusanalyse<br />
sei falsch, weil sie den Imperialismus als qualitativ neue Stufe<br />
des Kapitalismus behauptet, schreibt Wolter: "Da der staatsmonopolistische Kapitalismus<br />
für ihn (Lenin) praktisch der <strong>Sozialismus</strong> unter der Herrschaft der<br />
Bourgeoisie ist, muß lediglich die reaktionär-bürokratische Seite zerschlagen werden,<br />
während die Seite der ökonomischen Funktionen des Staates für den Aufbau<br />
des <strong>Sozialismus</strong> übernommen werden kann, so daß die deutsche Post zum<br />
Vorbild seines <strong>Sozialismus</strong>modells wurde" (91 f.).<br />
Eine ähnliche Kontinuität in der Politik der H. Internationale und der der leninistischen<br />
Partei versucht Wolter im Hinblick auf die "Arbeitsteilung" von politischem<br />
und ökonomischem Kampf nachzuweisen (49, 77 ff.), die sich organisatorisch<br />
als Trennung von gewerkschaftlicher Interessenvertretung und berufsrevolutionärer<br />
politischer Arbeit ausdrückt. W olter behauptet, daß solche Trennung<br />
sowohl für die reformistische Arbeiterbewegung und ihre Repräsentanten<br />
(Kautsky, Bernstein, Hilferding vor allem) als auch für die bolschewistisch-revolutionäre<br />
in Rußland charakteristisch sei. Freilich wird hervorgehoben, daß Lenin,<br />
anders als die Führer der deutschen Sozialdemokratie, sich in revolutionären<br />
Situationen praktisch-revolutionär verhielt, "so daß er gewissermaßen ein revolutionärer<br />
Revisionist" blieb (123).<br />
Eine der "Grundlagen des Stalinismus" sieht der Verfasser in dcn "Traditionen<br />
des russischen J akobinismus", d. h. im "Primat der Politik" (125), die in der<br />
nach revolutionären Sowjctunion zur Entwicklung "einer besonderen sozialen<br />
DAS ARGUMENT 102/1977 ©