Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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234 R(1fael de la Vega<br />
Anders etwa als Chile oder Portugal ist Spanien heute ein moderner Industriestaat,<br />
mit einer wirtschaftlichen Gesamtleistung von fast 90 Milliarden Dollar pro<br />
Jahr. Als fünftgrößte Industrienation Westeuropas ist es eines der wenigen Länder,<br />
die eine eigene Weltraumforschung betreiben und über ein beträchtliches<br />
Netz von Kernkraftwerken in Betrieb bzw. im Bau verfügen 15. Das Land liegt an<br />
vierter Stelle in der Weltproduktion von Büchern, an zehnter Stelle im Fahrzeugbau<br />
und an sechster im Schiffsbau. Die Eisenerzgewinnung ist die vierte, die<br />
Stahlproduktion die achte Europas (ohne Berücksichtigung der Sowjetunion).Das<br />
Land hat infolgedessen eine soziale Struktur, die im großen und ganzen mit der<br />
der anderen entwickelten kapitaliStischen Staaten verglichen werden kann. Und<br />
doch zeichnet Spanien etwas aus: es ist das Land mit der größten kapitalistischen<br />
Abhängigkeit unter den wichtigsten Industrienationen. Spanien kann ohne weiteres<br />
als Kolonie des ausländischen Monopolkapitals (hauptsächlich aus den<br />
USA, der BRD, Kanada, Großbritannien und Frankreich) betrachtet werden.<br />
Dazu kämen noch zwei weitere, eng miteinander verbundene Charakteristika:<br />
die geringe Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen Markt (eine Folge der<br />
politischen und ökonomischen Abseitsstellung des faschistischen Landes, aber<br />
auch der Interessen des die Produktion kontrollierenden internationalen Monopolkapitals)<br />
und die Tatsache, daß die größte Einnahmequelle des Landes, der<br />
Tourismus, keine Tätigkeit ist, die eigentlich als "produktive Arbeit" gelten<br />
könnte, vielmehr als Teil des Dienstleistungssektors anzusehen ist, und trotzdem<br />
für die Wirtschaft des Landes zentrale Bedeutung hat, da nur sie den Ausgleich<br />
der ständig negativen Außenhandelsbilanz des Landes ermöglicht. Die Industrialisierung<br />
fand also in Spanien nicht nur unter dem Zeichen der Abhängigkeit gegenüber<br />
dem Monopolkapital, sondern auch unter dem Joch des eigenen, nationalen<br />
Faschismus statt. Beide zu bekämpfen und zu überwinden ist das wichtigste<br />
Ziel aller spanischen Demokraten, und dazu ist eine breite Allianz aller antifaschistischen<br />
Kräfte notwendig, die zuerst die Überreste des Faschismus beseitigt<br />
und als erste politische Etappe die parlamentarisch-bürgerliche Demokratie<br />
errichtet. Erst auf dem Boden einer Demokratie, die für das Land einen riesigen<br />
Schritt nach vorne bedeutet, wird man dazu übergehen können, den MonopolkaptaIismus<br />
zu beseitigen. Lnter den herrschenden Bedingungen die sozialistische<br />
Revolution in Spanien zu wagen, wäre nur ein törichtes maximalistisches<br />
Abenteuer, das mit einem Blutbad und der Wiederherstellung des Faschismus<br />
enden würde. Die Klassenstruktur der heutigen spanischen Gesellschaft, die<br />
herrschenden Produktionsverhältnisse und die noch wirkende Erinnerung an die<br />
langen grausamen Jahre der Unterdrückung und der Entbehrungen bilden einen<br />
sehr dichten Komplex von Faktoren, über den man nicht mit Denkschablonen<br />
hinweggehen kann. Das spanische Proletariat fühlt sich als Opfer der kapitalistischen<br />
Ausbeutung, keinesfalls aber als Mitausbeuter (zusammen mit der eigenen<br />
Bourgeoisie) anderer Völker, und scheut verständlicherweise jede revolutionäre<br />
Umwälzung, die eine, wenn auch nur vorläufige, so doch unvermeidliche Verschlechterung<br />
seines jetzigen relativen Wohlstands mit sich brächte, der mit so<br />
großen Opfern erreicht wurde. Der Wunsch nach Freiheit und Demokratie, das<br />
Verlangen nach Zerschlagung der Monopole und Errichtung des <strong>Sozialismus</strong>,<br />
wie sie mit eindrucksvoller Kraft von großen Massen des spanischen Volkes ge-