Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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280 Besprechungen<br />
man üblicherweise "materielle Bedingungen" nennt - entwickeln wird, sondern<br />
daß sie unterstützt werden muß in der Artikulation und Umsetzung inhaltlicher<br />
Alternativen, daß die Weiterqualifikation der Erzieher sich nicht nur auf Fortbildungen<br />
(die seltenen) beschränken kann, sondern daß die laufende Qualifikation<br />
durch die Praxis respektiert und unterstützt werden muß.<br />
Was die Autoren vorschlagen: Kooperation der Erzieher, stärkeren Einbezug<br />
der unmittelbaren Nachbarschaft des Kindergartens, aufmerksameres Hinsehen<br />
auf das, was Kindern und Eltern außerhalb der Tagesstätte wichtig ist und wichtig<br />
sein muß, scheint zunächst nicht sonderlich originell und ist in der neueren<br />
Kindergartenpädagogik eine verbreitete Forderung. Die Konkretion dieser geläufigen<br />
Forderung ist es aber, die dieses Buch so bemerkenswert macht. Das wird<br />
deutlich schon an der Sprache. Die Autoren konkurrieren nicht mit dem Leser.<br />
Sie vermeiden planvoll jene Terminologie, die die Kindergartenpädagogik als<br />
hochschulreif ausweisen soll. Dieses Buch ist nicht Ergebnis von Veröffentlichungszwang.<br />
Vermeiden wurde ebenso die betulich herablassende Sprache der<br />
älteren Kindergartenpädagogik wie die saloppe begriffsarme von Sozialpädagogen,<br />
die sich locker geben wollen. Die Verfasser bemühen sich stattdessen um<br />
größtmögliche Klarheit, z. B. bei direkten Ratschlägen wie "Beim Unfall eines<br />
Kindes kann man ruhig mal ein zweites zum Arzt mitnehmen. Dem einen hilft<br />
es, und den anderen interessiert es". (139) Zugleich geben sie dem Fachwortschatz<br />
aus den Berufen der Eltern viel Raum und unterstützen damit die Erzieher,<br />
denen zur Beschreibung der Arbeit der Eltern notwendig die Begriffe fehlen<br />
müssen.<br />
Weil Erziehern nicht immer klar ist, "was Kindern außerhalb der Tagesstätte<br />
wichtig sein muß", und aufgrund von Herkunft, Ausbildung und Arbeitsplatz<br />
auch kaum klar sein kann, beginnt das Buch mit der Schilderung des Tagesablaufs<br />
einer westberliner Arbeiterfamilie, ergänzt durch eine Aufstellung ihrer<br />
monatlichen Ein- und Ausgaben. An vielen Stationen, die der 5jährige Thomas<br />
Kunert an einem Wochentag durchläuft, wird anschaulich, wie sein Leben und<br />
sein Spiel bestimmt ist durch die Zwänge, die die Reproduktion einer proletarischen<br />
Familie setzen muß, und welche Fähigkeiten er in diesem Lebenszusammenhang<br />
entwickelt. Am Beispiel einiger notwendiger "Mißverständnisse" zwischen<br />
Erziehern und Thomas wird deutlich, wie er seine Fähigkeiten im Kindergartenalltag<br />
kaum realisieren kann. Solche notwendigen "Mißverständnisse"<br />
praktisch aufzulösen, bemühen sich vier sehr sorgfältig ausgearbeitete didaktische<br />
Einheiten: Arbeitswelt der Eltern, Krankheit, Verkehr, Rollenspiele. In der<br />
Einheit Arbeit ist es gelungen, zwei Gefahren zu umgehen, die in ähnlichen Versuchen<br />
zu diesem Thema bisher immer dominiert haben. In der traditionellen<br />
Kindergartenpädagogik wurde der Bereich der gesellschaftlichen Arbeit durch<br />
bloße Äußerlichkeiten wie Arbeitsanzug oder Werkzeug charakterisiert. Die<br />
Auswahl der Berufe war an Status orientiert (Arzt), oder altertümelnd (Stationsvorsteher,<br />
Zimmermann). Frauenberufe existierten nicht. Dabei wurde unterschlagen,<br />
daß Kindern und Eltern in erster Linie die Arbeitsbedingungen interessieren<br />
müssen, deren Auswirkungen sie täglich erfahren. Zu Recht erinnern die<br />
Autoren die Erzieher hier an ihr eigenes Verhältnis zum Arbeitsplatz: was ihnen<br />
daran interessant erscheint. ,.sind doch nicht Arbeitswerkzeuge und Berufskleidung,<br />
sondern das Betriebsklima und die Arbeitsbedingungen. Wie sind die Kollegen,<br />
wie ist die Leiterin; muß man Überstunden machen, wie ist die Kontrolle<br />
des Amtes?" (47). Und auch die Kinder stellten neugierige Fragen nach den Arbeitsbedingungen.<br />
Eben: "und wenn der Kranfahrer pinkeln muß?" Dabei wurde<br />
DAS ARGUMENT 102/1977 ©