Sozialismus-Diskussion - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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286 Besprechungen<br />
dig ausklammern zu können. Dabei belegen sie selbst immer wieder das Ausklammern<br />
des klinischen Gesichtspunkts als undurchführbar. In der Einleitung<br />
zu jeder Fallbeschreibung bringen sie den klinischen Aspekt des Falls mit Begriffen,<br />
die eine Reihe von Eigenschaften kennzeichnen, in denen üblicherweise<br />
Symptome von Schizophrenie gesehen werden.<br />
Indem die Autoren so die traditionellen <strong>Theorie</strong>n der Psychiatrie ausklammern,<br />
setzen sie sich selbst außerhalb der Klammer und erkennen ihre Einordnung<br />
in bestimmte historische Zusammenhänge nicht an. Konsequent beginnen<br />
sie das Vorwort zur zweiten Auflage des Buches mit der Feststellung: "Es gibt<br />
viele Untersuchungen über Geisteskrankheit und die Familie. Dieses Buch gehört,<br />
zumindest nach unserer Meinung, nicht dazu. Es ist jedoch von vielen<br />
Leuten dazu gerechnet worden. Das hatte zur Folge, daß vieles in der durch die<br />
erste Auflage dieses Buches ausgelösten umfangreichen Debatte im Hinblick auf<br />
unsere Zielsetzung und Methodik völlig irrelevant ist." (7)<br />
Die einfache Negation von Geisteskrankheit, die als "Antipsychiatrie" in die<br />
Geschichte eingegangen ist, hat sicher einen besonderen Stellenwert und war als<br />
Antwort auf die Psychiatrie Kraepelins und Bleulers wohltuend für die Patienten<br />
und befreiend für die medizinische Wissenschaft. Man mußte die Psychiatrie im<br />
Rahmen psychOSOZialer Realitäten grundlegend neu durchdenken.<br />
Aber heute ist die Phase der Antipsychiatrie, die zugleich mit der Negation<br />
der Krankheit auch die Psychiatrische <strong>Institut</strong>ion als Ort der Behandlung negiert,<br />
vorbei. Heute geht es darum, auf der Basis der Relativierung sämtlicher<br />
psychiatrischer Begriffe anhand einer umfassenden Gesellschaftstheorie Gesundheit<br />
und Krankheit auf dem Hintergrund der Wechselwirkungen zwischen dem<br />
Individuum und seinen engsten Bezugspersonen, dem weiteren sozialen Umfeld<br />
und dem gesamten Gesellschaftssystem zu studieren und Störungen innerhalb<br />
dieser Bezugssysteme in Zusammenarbeit zwischen <strong>Institut</strong>ionen, Instanzen und<br />
Personen außerhalb der psychiatrischen <strong>Institut</strong>ionen zu behandeln, wie es von<br />
einer Neuen Psychiatrie in Hannover, Arezzo und Triest praktiziert wird.<br />
Barbara Seuster (Insel Reichenau)<br />
Geschichte<br />
Lange, KarI: M a r n e s chi ach tun d d e u t s c he Ö f f e n t I ich k e i t<br />
1914-1939. Eine verdrängte Niederlage und ihre Folgen. Bertelsmann Universitätsverlag,<br />
Düsseldorf 1974 (221 S., br., 42,- DM).<br />
Nachdem der Erste Weltkrieg bislang vorwiegend unter den Gesichtspunkten<br />
"Kriegsschuldfrage" und "Dolchstoßlegende" diskutiert worden ist, analysiert<br />
Lange ihn und seine Auswirkungen in und auf Deutschland aus der Perspektive<br />
der deutschen Niederlage an der Marne (Sept. 1914), die von französischer und<br />
englischer Seite aus als "Marnewunder" apostrophiert worden ist. Er beschreibt<br />
die dirigierte Nachrichtenpolitik seitens des deutschen Oberkommandos und die<br />
unrealistische, chauvinistische Berichterstattung und Kommentierung im Deutschen<br />
Reich. So kann er aufzeigen, daß lange Zeit die deutsche Öffentlichkeit<br />
nicht adäquat über die Niederlage an der Marne - die Lange für kriegsentscheidend<br />
hält - unterrichtet worden ist, und daß nach der Unmöglichkeit, den Tat-<br />
DAS ARGUMENT 102/1977 ©