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Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

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Apropos Traum:<br />

»Angeklagter, Sie haben das letzte Wort.«<br />

Die Indizien sprachen gegen mich. Mein Verteidiger würdigte mich<br />

keines Blickes mehr.<br />

»Hohes Gericht«, sagte ich, »ich gestehe: Ja, ich habe Waldmann vergiftet.«<br />

Ein Raunen ging durch den Saal. »Dennoch verlange ich, freigesprochen<br />

zu werden. Erlauben Sie mir, dass ich etwas aushole.« Der<br />

Richter drehte Däumchen. »Die Welt ist nicht eine Ansammlung von<br />

Dingen, sondern eine Abfolge von Ereignissen. Ein Geschehen reiht<br />

sich an das andere, eine ewige Stafette von Ursache und Wirkung, mit<br />

unerbittlicher Gesetzmäßigkeit. Wäre unser Verstand grenzenlos, so<br />

könnten wir die Entwicklung der Welt vom Urknall bis heute lückenlos<br />

rekonstruieren und ebenso die weitere Entwicklung zuverlässig vorhersagen.<br />

Denn wie sich der Lauf einer Billardkugel nach einer Karambolage<br />

präzise berechnen lässt, so – jedenfalls in der Theorie – auch der<br />

Lauf der Welt, das große Billard der Atome.« Der Richter schaute ungnädig<br />

auf mich herab. Unbeirrt fuhr ich fort:<br />

»Der Mensch ist eine Welt im kleinen. Auch er ist dem Gesetz von<br />

Ursache und Wirkung unterworfen. Das Baby schließt sein Händchen<br />

reflexartig um den dargereichten Finger. Wer in einen schmackhaften<br />

Apfel beißt, dem schießt der Speichel in den Mund. Wenn uns jemand<br />

beleidigt, wird Adrenalin ausgeschüttet, wir reagieren wütend und vergessen<br />

unsere gute Erziehung. Wohlgemerkt: Auch Erziehung bestimmt<br />

unser Tun. Moralische Gebote, Gewohnheiten, Vorbilder prägen unsere<br />

gesamte Persönlichkeit. Gefühle, Denken, Handeln ergeben sich zwingend<br />

aus äußeren Faktoren und innerer Disposition. Letztere ist das<br />

Produkt aus genetischer Anlage und erzieherischer Formung.« Der<br />

Richter gähnte.<br />

»Weil dem so ist, muss ich darauf bestehen, dass ich unschuldig bin.<br />

Ich habe Waldmann vergiftet, das ist wahr, aber nicht aus freiem Willen.<br />

Ich wurde vielmehr das Opfer meiner Determination. Schon in der<br />

Stunde meiner Geburt, ja schon in der Sekunde des Urknalls stand fest,<br />

– 100 –

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