Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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neue Ordnung in den Regalen mehr als wett. Trotzdem kann man mit<br />
einer gewissen Berechtigung sagen, dass es dem Leben eine Zeitlang gelingt,<br />
sich erfolgreich gegen die Entropie zur Wehr zu setzen. Ein toter<br />
Körper verfault in wenigen Tagen. Ein lebender Körper hält sich an die<br />
hundert Jahre ganz ordentlich, indem er beständig Entropie ausscheidet<br />
und so die Entropie in seiner Umwelt vergrößert.<br />
So gesehen, ist das Leben ein einziges Rückzugsgefecht im Kampf gegen<br />
den Verfall und – besonders in der zweiten Lebenshälfte – der Versuch,<br />
die Zeit mit Hilfe von Kosmetik, Medizin und Gehirnjogging<br />
zum Stillstand zu bringen.<br />
Die erbittertsten Schlachten gegen die Zeit schlugen die alten Ägypter.<br />
Ungezählte Sklaven ließen ihr Leben bei dem Projekt, einen Pharao<br />
unsterblich zu machen. Jahrtausende haben den großen Pyramiden<br />
kaum etwas anhaben können. Und wenn Michael Crichton den Tyrannosaurus<br />
Rex aus einem konservierten Blutstropfen wiederbeleben<br />
konnte, warum sollte nicht auch König Tut-ench-Amun irgendwann<br />
auferstehen? Er wäre sicher eine Sensation im »Mumien-Park«.<br />
Die <strong>für</strong>chterlichste Waffe, die Ägypten gegen die Zeit erfunden hat,<br />
war die Hieroglyphe. Die Schrift gibt uns die Möglichkeit, Gedanken<br />
festzuhalten. Die fixierten Gedankengänge können problemlos, durch<br />
einfaches Abschreiben nämlich, »geklont« und beliebig vervielfältigt<br />
werden. So wurde die Heiterkeit Homers unsterblich, so wurde Sapphos<br />
Liebeskummer im Gedicht verewigt. Und wenn wir Platon lesen,<br />
glauben wir Sokrates auf dem Marktplatz von Athen philosophieren zu<br />
hören.<br />
Die modernen Waffen in diesem Kampf – Fotoapparat, CD, Computer<br />
– sind von beeindruckender Effizienz. Wenn wir dem Augenblick<br />
zurufen möchten: »Verweile doch, du bist so schön!«, genügt ein Druck<br />
aufs Knöpfchen. Wir hören die Callas singen und sehen zum zehnten<br />
Mal »Casablanca«. Unsere Unterhaltungsprogramme sind voll von lebenden<br />
Toten, und schon ist es möglich, Humphrey Bogart virtuell<br />
wiederzubeleben, gerade rechtzeitig <strong>für</strong> die Verfilmung von »Casablanca<br />
II«.<br />
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