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Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

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»Nur eine halbe Kerzenlänge.« Man konnte der Zeit zuhören, man<br />

konnte sie beobachten und mit Händen greifen. Sie war weich und<br />

dehnbar.<br />

Die Stechuhr dagegen ist unbestechlich. Die Zeit, die uns heute beherrscht,<br />

ist eine abstrakte Größe, sie ist bürokratisiert, homogenisiert,<br />

globalisiert und kapitalisiert. Ja, auch kapitalisiert, denn Zeit ist Geld,<br />

das macht mir der Gebührenzähler meines Telefons jeden Tag aufs neue<br />

klar. Wer Zeit verliert, verliert Geld, und wer Geld hat, kann sich Zeit<br />

leisten, entweder direkt, in Form von Ferien, oder indem er sich einen<br />

Park von Zeitsparmaschinen zulegt, ein schnelleres Auto, die neueste<br />

Software, eine Geschirrspülmaschine. Gegenüber den grauen Herren<br />

von der Zeit-Spar-Kasse, die heute den Zeitgeist verkörpern, wirkt<br />

Saint-Exupérys kleiner Prinz ein bisschen out of time:<br />

Als ein Händler ihm eine Pille anbot, die den Durst <strong>für</strong> eine Woche<br />

löschen sollte, fragte der kleine Prinz nach dem Nutzen.<br />

»Das ist eine große Zeitersparnis«, sagte der Händler. »Man erspart<br />

dreiundfünfzig Minuten in der Woche.«<br />

»Und was macht man mit diesen dreiundfünfzig Minuten?«<br />

»Man macht damit, was man will ...«<br />

»Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte«, sagte der kleine<br />

Prinz, »würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen ...«<br />

Der Brunnen vor dem Tore war eben mehr als eine Wasserzapfstelle.<br />

Am abendlichen Brunnen ließ sich das Gänseliesel zu einem Kuss überreden.<br />

»Um dunkle Brunnenränder, die verwittern, im Wind sich fröstelnd<br />

blaue Astern neigen«, dichtete Georg Trakl, bevor er das Zeitliche<br />

segnete. Klingt irgendwie romantischer als: »Um blanke Armaturen aus<br />

Nirosta im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.« In den unheimlichen<br />

Tiefen des Brunnens wohnte ein verzauberter Prinz. Im Wasserhahn<br />

wohnt allenfalls der Kalk. Das Wasser, das ihm entströmt, gleicht<br />

der modernen Zeit: Es ist geklärt und gechlort, heimat-, geschichtsund<br />

geschmacklos. Und es steht immer unter Druck. Am Brunnen<br />

stand eine hundertjährige Linde. Neben dem Wasserhahn steht die Pril-<br />

– 127 –

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