Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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erscheint als eine unterentwickelte Form von »wissen«, es ist von Unsicherheit<br />
geprägt.<br />
Das, was den religiösen Glauben ausmacht, ist etwas völlig anderes.<br />
Es geht überhaupt nicht darum, einen objektiven Sachverhalt der Außenwelt<br />
zu erkennen oder anzuerkennen. Engel sind keine Ufos, Gott<br />
kein Himmelsyeti. Aber was ist er dann? Schwer zu sagen. Er enthüllt<br />
sich einzelnen Menschen in ganz persönlichen Begegnungen, mal als<br />
»Gefühl«, mal als »Stimme«, mal als »Licht«, mal als »Dunkelheit« und<br />
mal als paradoxe »dunkle Wolke, die die Nacht erhellt«. Keine Offenbarung<br />
ist wie die andere. Rainer Maria Rilke zum Beispiel beschrieb<br />
die seine mit folgenden Versen:<br />
»Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe<br />
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.<br />
Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,<br />
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige<br />
tief unten ruhn und nur im Winde winken.«<br />
Dieser dunkle, in der Dunkelheit verborgene Gott lässt sich nicht<br />
mit dem Intellekt festnageln. Und so hartnäckig er sich gegen eine Definition<br />
sträubt, so unvollkommen lässt er sich mitteilen. Religion ist<br />
kein Rezept, das man weitergeben könnte: »Man nehme: 1 Taufe, 10<br />
Gebote, 1 Vaterunser, 1 Prise Nächstenliebe ...« Alle so genannten Gottesbeweise<br />
beweisen nur, dass Gott sich jedem Beweis entzieht. Und<br />
doch räumt die persönliche Begegnung mit Gott jeden Zweifel aus.<br />
Der religiöse Glaube beinhaltet die größtmögliche Sicherheit. Wie soll<br />
man jemandem, der niemals geliebt hat, die Liebe begreiflich machen?<br />
Genauso obskur bleibt <strong>für</strong> alle, die ihn nicht kennen, der religiöse<br />
Glaube. Dessen Kern ist immer mystisch, d.h. »verschlossen«. Er lässt<br />
sich nicht begründen oder widerlegen, er kann nur passiv empfunden<br />
und bildhaft umschrieben werden – auch hierin der Liebe ähnlich.<br />
Mystik ist also nicht: Glaube an einen weißbärtigen Patriarchen mit<br />
kreativen Fähigkeiten; Glaube an ein abfragbares Bekenntnis; sie ist<br />
überhaupt kein Glaube an etwas, sondern, in der Formulierung Meister<br />
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