Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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ßigkeiten innerhalb seines Erfahrungsbereichs. Er frage nicht mehr<br />
»Warum sind wir auf der Welt?« oder »Was ist Wahrheit?«, sondern<br />
zum Beispiel: »Wovon ernährt sich der Regenwurm?« Der Erkenntnispfad<br />
führe also vom Glauben über die Spekulation allmählich zum experimentell<br />
überprüfbaren Wissen.<br />
�<br />
Jedes Stadium hat seine eigenen Antworten auf die Frage nach dem<br />
Ursprung des Lebens gefunden. Auf der Stufe des bloßen Glaubens<br />
entstanden die Schöpfungsmythen, z.B.: »Am Anfang schuf Gott Himmel<br />
und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war dunkel auf<br />
der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott<br />
sprach: ›Es werde Licht!‹ Und es ward Licht.« In einem ägyptischen Pyramidentext<br />
äußert sich der Schöpfer persönlich: »Ja, ich war es, der<br />
meinen Penis ergriff, Saatwasser hervorlockte, dieses durch meine Faust<br />
in mich selbst hinein leitete. Ich wickelte mich selbst um meinen Penis,<br />
ich half mit, meinen Schatten zu vögeln, ich fächelte mir Kühlung zu<br />
unter seiner Wolke. Ich regnete fruchtbares Wasser, es trieb wie Gerste<br />
aus der Erde in meinem Mund.« Dagegen raunten die griechischen Orphiker,<br />
»dass die schwarzgeflügelte Nacht, eine Göttin, vor der selbst<br />
Zeus in Ehrfurcht stand, vom Wind umworben wurde; und dass sie ein<br />
silbernes Ei im Schoß der Dunkelheit legte; und dass Eros diesem Ei<br />
entschlüpfte und das All in Bewegung setzte.«<br />
So poetisch diese Berichte klangen, die Vielzahl und Beliebigkeit der<br />
Schöpfungsmythen musste früher oder später jemanden stutzig machen.<br />
Damit war die <strong>Philosophie</strong> geboren. Pythagoras, einer ihrer prominentesten<br />
Vorkämpfer, leugnete schlicht die Notwendigkeit eines<br />
Ursprungs: Die Zeit bewege sich in Großzyklen, die Welt sei ein perpetuum<br />
mobile, ein unendliches Karussell. Von Zeit zu Zeit komme es auf<br />
der Erde zu gewaltigen Katastrophen, die Menschheit werde dann fast<br />
vollständig ausgelöscht, und der ganze Zivilisationsprozess beginne von<br />
vorn. Die letzte Großkatastrophe – Historiker datieren die »Sintflut«<br />
auf ca. 3000 v. Chr. – geisterte ja noch durch das Gedächtnis der Völ-<br />
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