02.02.2013 Aufrufe

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Am Anfang waren die Menschen kugelrund, mit vier Beinen, vier<br />

Armen und zwei Gesichtern. Sie bewegten sich radschlagend durch die<br />

Landschaft, indem sie ihre acht Extremitäten wie Speichen ausstreckten.<br />

Die Kugelmenschen waren bärenstark und in sich vollkommen.<br />

Daher wurden sie übermütig und zeigten den Göttern den Stinkefinger.<br />

Bis denen die Galle überlief. Sie hackten jede Kugel in der Mitte<br />

durch und verstreuten die Hälften über die Erde. Seitdem ist der Jammer<br />

groß. Denn »jeder von uns ist nur das Halbstück eines Menschen<br />

... und sucht beständig das ihm entsprechende Gegenstück«. Die<br />

Schnittstellen am Körper sind unsichtbar, aber die seelische Wunde verheilt<br />

niemals, es sei denn, eine Märchenprinzessin verirrt sich in das<br />

Dorf einer halben Portion: »Fügt es sich nun, dass ein Liebender ... auf<br />

seine eigene Hälfte trifft, dann werden sie von wunderbaren Gefühlen<br />

der Freundschaft und Vertraulichkeit und Liebe ergriffen und möchten<br />

am liebsten keinen Augenblick voneinander lassen ... Seinen Grund hat<br />

das in unserer ursprünglichen Natur: wir waren einmal ganze Wesen.<br />

Das Begehren also und das Streben nach dem Ganzen ist es, was man<br />

Liebe (éros) nennt.«<br />

Mythen sind gewöhnlich nicht aus der Luft gegriffen. Oftmals reflektieren<br />

sie in verfremdeter Form ein historisches Ereignis. Und in der<br />

Tat hat jeder Mensch eine Urspaltung hinter sich. Ich persönlich muss<br />

das Ereignis verschlafen haben, deshalb lassen wir eine Patientin des<br />

Psychiaters R. D. Laing zu Wort kommen:<br />

»Ich war in der Steißlage; aber sie drehten mich herum, dann zerrten<br />

sie mich mit der Zange heraus – ich spüre immer noch, wie der<br />

Schmerz die rechte Seite heraufzieht ... schließlich kam ich heraus. Es<br />

war verdammt schwer gewesen, aber mir gelang trotzdem noch ein Lächeln.<br />

Dann durchtrennten sie die Schnur. Da wusste ich endgültig,<br />

dass die Scheißtypen Ernst machten.«<br />

So was prägt. Wir suchen zeitlebens einen Körper, mit dem wir wieder<br />

verschmelzen können, sei es der Körper der Mutter, an den sich das<br />

Kleinkind klammert, sei es der Körper der oder des Geliebten, von dem<br />

man nicht genug bekommen kann, sei es der Körper einer singenden,<br />

– 35 –

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!