Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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die Garanten <strong>für</strong> ein Weiterleben nach dem Tode – zumindest in Gen-<br />
Gestalt. Wer vom geistigen Eros besessen ist, der verewigt sich in<br />
schöpferischen Leistungen. Welches von beiden der Philosoph vorziehen<br />
sollte, ist <strong>für</strong> Platon keine Frage. Letzten Endes geht es ihm um die<br />
Liebe zum Ideal. Dorthin gelangt der Mensch, indem er die fünf Stufen<br />
einer Initiationsleiter hinaufsteigt. Der Novize im Mysterium der Liebe<br />
verguckt sich in einen bestimmten schönen Körper (1). Es folgen die<br />
Liebe zur körperlichen Schönheit überhaupt (2), die Liebe zur Seelenschönheit<br />
(3), die Liebe zu schönen Erkenntnissen und Handlungen<br />
(4). Auf der obersten Stufe schließlich – und hier berühren wir fast<br />
schon die Sphäre der Götter – schaut der Philosoph die Idee der Schönheit<br />
(5). »An diesem Punkt des Lebens lohnt sich, wenn überhaupt irgendwo,<br />
das Dasein <strong>für</strong> den Menschen: im Schauen des Schönen an<br />
sich.«<br />
Das klingt reichlich abgehoben, und in der Tat liegt der Rede des Sokrates<br />
die esoterische Lehre der Eleusinischen Mysterien zugrunde. Die<br />
Steigerung der Liebe ins Religiöse ist jedoch in vielen Kulturen gängige<br />
Praxis. Denken wir nur an das Kamasutra, die Liebesschule des hinduistischen<br />
Tantrismus, und die davon inspirierten erotischen Tempelreliefs.<br />
Oder denken wir an die mystische Liebeserklärung im Hohelied<br />
Salomons: »Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du!<br />
Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier, dein Haar<br />
ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Deine<br />
beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien<br />
weiden. Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel<br />
ist an dir.«<br />
Insofern ist der Eros des Sokrates zutreffender als das Kugelmenschenmodell.<br />
Nicht unseresgleichen suchen wir, wenn wir lieben, wissen<br />
wir doch nur allzu gut, was <strong>für</strong> erbärmliche Bastarde wir sind –<br />
großartig in unseren Möglichkeiten, Nieten in der Verwirklichung. Wir<br />
suchen im anderen das höhere Wesen, das uns zu sich hinaufziehen<br />
kann, das uns zu unserem besseren Ich erziehen kann, sei es im Arztroman<br />
der Halbgott in Weiß, sei es <strong>für</strong> den Minnesänger die Hôhe Frou-<br />
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