Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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17<br />
DIE REISE<br />
ODER LEBEN HEISST<br />
UNTERWEGS-SEIN<br />
»Das ist der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens,<br />
dass es die Orte, die dir vorher in der Unendlichkeit<br />
und in der Unerreichbarkeit lagen, endlich und<br />
erreichbar macht. Diese Endlichkeit und Erreichbarkeit<br />
zieht dir aber geistige Grenzen, die du nie mehr loswerden<br />
wirst ... Der Vielgereiste haftet mehr an der<br />
Erde als der Niegereiste.«<br />
(Max Dauthenday)<br />
»Wer lebt, ein Fremdling ist er, stets auf Reisen. Und<br />
erst im Tode hat er heimgefunden. Die ganze Welt ist<br />
nur ein Herbergsraum; Jahrtausende hat nur der Staub<br />
gebunden.«<br />
(Li T'ai-po)<br />
Ein 7-Punkte-Marienkäfer krabbelt über einen bizarren Lederkontinent.<br />
Der Kontinent ist hügelig, die kahlen Hügel rollen und hüpfen.<br />
In Wirklichkeit handelt es sich um den olivgrünen Ledermantel, den<br />
ich vor einem Jahr in einem Bremer Second-Hand-Laden erstanden<br />
habe. Ich bin auf dem Weg zum Speisewagen. Ich gehe mit normaler<br />
Geschwindigkeit – geschätzte 2-3 km/h –, dabei rast draußen die Landschaft<br />
vorbei, ein herbstlicher Flickenteppich, namenlose Ortschaften,<br />
Lärmschutzwände, Tunnels. Das Display am Wagenende informiert<br />
über das augenblickliche Tempo des ICE: 198 km/h. Preisfrage: Mit<br />
welcher Geschwindigkeit bewegt sich der Käfer? Bewegung ist relativ.<br />
Reisen ist relativ. Nicht die Ortsveränderung ist das Wesentliche an der<br />
Reise, sondern die Bewusstseinsveränderung. Wer sich in einer fensterlosen,<br />
geräuschisolierten Kiste einmal um die Welt transportieren lässt,<br />
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