Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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nen Bekenntnissen nahm er sich selbst unter die Lupe. »Ich will meinesgleichen<br />
einen Menschen in seiner ganzen Naturhaftigkeit zeigen, und<br />
dieser Mensch werde ich sein. Ich allein.«<br />
In diesem »Ich allein« steckt der gleiche Stolz, der Robinson zum König<br />
seiner Insel macht. Ein Stolz, der nicht in der Anerkennung durch<br />
andere Menschen wurzelt. Ein Stolz, der nicht auf herausragenden Leistungen<br />
beruht. Dieses »Ich allein« ist das mächtige existentialistische<br />
Trotzdem, das Rousseau zu seinem unglaublichen Werk befähigte und<br />
seine Leser durch die Jahrhunderte immer wieder neu ergreift.<br />
�<br />
Noch eine abschließende Bemerkung: Heute ist es gängige Praxis,<br />
seelische Probleme dadurch lösen zu wollen, dass man die Gemeinschaft<br />
sucht, oder vielmehr die Nestwärme in der »Gruppe«. Das offene<br />
Gespräch gilt als gesund, Schweigen als seelische Blockierung, beharrliches<br />
Schweigen als krankhaft. Nun mag das Sich-Aussprechen in vielen<br />
Fällen den Leidensdruck mildern und eine Heilung herbeiführen. Aber<br />
es gibt auch einen anderen Weg. Der Mensch ist nicht nur ein soziales<br />
Wesen, die zwischenmenschliche Beziehung ist kein Allheilmittel. Frühere<br />
Epochen waren sich darin einig, dass der Schlüssel zum wahren<br />
Glück in der Beziehung des Menschen zum Göttlichen liege. Materialismus<br />
und Psychoanalyse haben diesen Aberglauben entlarvt. Aber am<br />
Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mehren sich die Zweifel, ob nicht<br />
vielleicht Freud und Marx auf dem Holzweg waren, als sie die Religion<br />
<strong>für</strong> überholt erklärten. Butterbrot und Orgasmus sind nicht alles. Der<br />
Mensch will mehr. Und er kann mehr. Er hat ein Potential in sich, das<br />
über alles hinausgeht, was die Gruppe leistet. Diese gewaltigen Kräfte<br />
werden jedoch erst dann freigesetzt, wenn der Mensch in die Einsamkeit<br />
geht, sich dem kosmischen Schweigen aussetzt und die Ewigkeit<br />
umarmt, so wie es Buddha, Jesus, die Wüstenväter, Rousseau, Nietzsche,<br />
Wittgenstein und unzählige andere vorgemacht haben. Sicher gibt<br />
es den krankhaften Rückzug aus der Gesellschaft, sicher gibt es den<br />
fruchtlosen Egotrip, aber genauso sicher gibt es die Expedition in die<br />
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