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Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

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machen, das in der Treulosigkeit gerettete Leben vergiftet sein würde,<br />

wo dieser Verrat des ewigen Seins das nun noch bleibende Dasein unselig<br />

werden ließe.«<br />

Im Bewusstsein seines Scheiterns blickte er auf jene Philosophen zurück,<br />

die das letzte Examen bestanden hatten, auf Sokrates und Thomas<br />

Morus, auf Seneca, Boethius und Giordano Bruno, die legendären<br />

Vorbilder, die »ohne eine ihnen wesentliche Zugehörigkeit zu einer<br />

Glaubensgemeinschaft in der Welt, auf sich allein vor Gott stehend,<br />

den Satz verwirklichten: <strong>Philosophie</strong>ren heißt sterben lernen«.<br />

Ein alter Satz. Montaigne hat einen Essay darüber geschrieben.<br />

Schon Cicero hat ihn zitiert. Über die Jahrhunderte ist er zum philosophischen<br />

Klischee geworden, so abgedroschen wie das sokratische Staunen,<br />

so ausgehöhlt wie das Höhlengleichnis. Nach dem Holocaust<br />

klingt der Satz vollends schief. Muss man den Sensenmann auch dann<br />

gleichmütig begrüßen, wenn er eine SS-Uniform trägt? <strong>Philosophie</strong> –<br />

der Tranquilizer aus dem Bücherregal. Das kann's doch wohl nicht<br />

sein.<br />

Vielleicht heißt <strong>Philosophie</strong>ren nach Auschwitz: Kämpfen lernen.<br />

Und wenn der Kampf aussichtslos ist: Scheitern lernen. Denn auch<br />

Scheitern ist eine Kunst: »Es ist entscheidend <strong>für</strong> den Menschen, wie er<br />

das Scheitern erfährt: ob es ihm verborgen bleibt und ihn nur faktisch<br />

am Ende überwältigt oder ob er es unverschleiert zu sehen vermag und<br />

als ständige Grenze seines Daseins gegenwärtig hat; ob er phantastische<br />

Lösungen und Beruhigungen ergreift, oder ob er redlich hinnimmt im<br />

Schweigen vor dem Undeutbaren. Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet,<br />

wozu der Mensch wird.«<br />

Die Schüler in der Aula des Alten Gymnasiums schrieben eifrig an<br />

ihren <strong>Philosophie</strong>-Klausuren. Thema: Zivilcourage. Ernst blickte Karl<br />

Jaspers auf sie herab. Ich blickte melancholisch zu ihm auf. Jaspers war<br />

kein großer Held gewesen, aber er hatte auch nie so getan, als ob. Und<br />

er hatte oft genug, wo andere den Schwanz einklemmten, Rückgrat gezeigt.<br />

Was hätte ich an seiner Stelle getan?<br />

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