Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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dachte Linie zwischen Erwartung und Erinnerung, oder, wie Augustinus<br />
nüchtern konstatierte, »die Gegenwart umfasst keinen Zeitraum«.<br />
Die Gegenwart dauert keine Stunde, keine Minute, keine Sekunde, sie<br />
dauert überhaupt nicht. Wenn also die Vergangenheit nicht ist und die<br />
Zukunft nicht ist und die Gegenwart nichts ist, was ist dann die Zeit?<br />
Immanuel Kant war ein pünktlicher Mensch. Er hielt seine Tagesroutine<br />
so minutiös ein, dass die Königsberger angeblich ihre Uhren<br />
nach ihm stellen konnten. Vielleicht glaubte er deshalb, dass die Zeit<br />
ein dem Menschen angeborenes Ordnungsprinzip sei. Wie die Welt tatsächlich<br />
aussehe, stehe in den Sternen. Ob es eine absolute, d.h. von<br />
Gegenständen und Lebewesen unabhängige Zeit gebe, könne niemand<br />
sagen. Man wisse aber, dass der Mensch seine Eindrücke zuerst einmal<br />
räumlich und zeitlich einordne. Tatsächlich sind ja die ersten Fragen,<br />
die einem einfallen, wenn man in fremder Umgebung aus tiefem Schlaf<br />
erwacht: Wo bin ich? Und wie spät ist es? In-der-Welt-Sein bedeutet<br />
immer auch In-der-Zeit-Sein. Bilden Raum und Zeit bei Kant schon<br />
ein Pärchen, so verschmelzen sie in der modernen Physik zur vierdimensionalen<br />
Raumzeit. Die Zeit – nur eine weitere Dimension neben<br />
Länge, Breite und Höhe? In gewisser Weise schon. Betrachten wir die<br />
raumzeitliche Welt vom Standpunkt des Hier und Jetzt:<br />
Länge: links – hier – rechts<br />
Breite bzw. Tiefe: hinten – hier – vorn<br />
Höhe: unten – hier – oben<br />
Zeit: früher – jetzt – später<br />
Die Gegenwart ist also nichts anderes als die Nullkoordinate der<br />
Zeit.<br />
Trotzdem, gegenüber dem altvertrauten Tripel der räumlichen Dimensionen<br />
wirkt die Zeit irgendwie exotisch. Was aber macht sie so anders?<br />
Die Relativität ihrer Wahrnehmung ist es nicht. Wenn wir einen<br />
Spaziergang in einer fremden Umgebung machen und irgendwann<br />
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