Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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trachtet hat: »Ich liebe dich.«<br />
Der Barkeeper versteht éros: »Er ist minderjährig.«<br />
Aber der Tramp meint agápe, was deutlich wird, als er seine Geschichte<br />
erzählt. Seine Frau, die er über alles liebte, hat ihn verlassen,<br />
vor langer Zeit schon. Mit dieser Frau hat er auch den Glauben an die<br />
Liebe verloren. Lange Jahre ist er untröstlich durchs Land gezogen. Irgendwann<br />
aber ist ihm klargeworden, dass der Fehler bei ihm gelegen<br />
hat, dass er sich nämlich, ohne eine Ahnung von der Liebe zu haben,<br />
gleich an das anspruchsvollste Objekt gewagt hat, an eine Frau. Seitdem<br />
lernt und übt er die Liebe. Er hat bei den einfachsten Objekten<br />
angefangen – »ein Baum, ein Felsen, eine Wolke« – und sie so lange betrachtet,<br />
bis die Liebe in ihm aufkeimte. Ein Goldfisch im Glas war das<br />
erste Tier, das er liebte, und jetzt ist er fast am Ziel angekommen. »Ich<br />
sehe eine Straße mit vielen Menschen, und ein schönes Licht erfüllt<br />
mich. Ich beobachte einen Vogel in den Lüften. Oder ich begegne einem<br />
Wanderer auf der Landstraße – einerlei, was, mein Sohn, und einerlei,<br />
wer es ist. Alles ist fremd, und alles liebe ich.«<br />
Wer ist der vollkommene Liebhaber: der wunderliche Tramp in dieser<br />
Erzählung von Carson McCullers oder Platons vergeistigter Priesterphilosoph,<br />
der sich an der Vorstellung der abstrakten Schönheit weidet?<br />
�<br />
Oder hat all das mit wirklicher Liebe überhaupt nichts zu tun? Ist<br />
Liebe, wie sie 99,9 Prozent der Menschen erleben, nicht viel prosaischer,<br />
viel praktischer – und viel problematischer? Ja, sagt der gesunde<br />
Menschenverstand. Höchste Zeit, dass wir uns aus dem Wolkenkuckucksheim<br />
der Metaphysik abseilen. Willkommen in der Doppelhaushälfte!<br />
Wenden wir uns also der dritten klassischen Form der Liebe zu, der<br />
partnerschaftlichen Liebe (philía), wie Aristoteles sie verstand. Auf den<br />
ersten Blick scheint sie keinerlei Geheimnis zu bergen: »Die Freundschaft<br />
und Liebe zwischen Mann und Weib ist naturgegeben ... Sie helfen<br />
einander, indem jeder seine Gabe in den Dienst der Gemeinschaft<br />
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