02.02.2013 Aufrufe

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

weiserinnen: Eine Hetäre versuchte, den jungen Mann auf die breite,<br />

leicht abschüssige Straße zum Glück zu locken, während eine strenge<br />

Gouvernante ihn mahnte, den steilen, von Dornbüschen gesäumten<br />

Pfad der Tugend zu wählen.<br />

Herakles schlug den Weg ein, der eines Halbgottes würdig war. Sein<br />

Leben bestand aus selbstloser Arbeit und Kämpfen gegen das hundertköpfige<br />

Böse. Den Tod fand er auf dem Scheiterhaufen. In der Erinnerung<br />

der einfachen Leute lebte er als »Heiland« fort, den sie in der Not<br />

um Hilfe anflehen konnten. Die kynischen Philosophen aber sahen in<br />

ihm ihren Schutzpatron, den »Scheideweg« interpretierten sie als die<br />

philosophische Situation schlechthin. <strong>Philosophie</strong> war <strong>für</strong> sie keine Sache<br />

des forschenden Verstandes, kein intellektueller Zeitvertreib, keine<br />

wissenschaftliche Karriere. Die existentielle Entscheidung war verlangt,<br />

das Bekenntnis zu einem wahrhaftigen, »nackten« Leben, einem Leben<br />

in der Nachfolge des Herakles.<br />

Die Kyniker stellen also keineswegs nur eine kuriose Randerscheinung<br />

der antiken <strong>Philosophie</strong> dar, wie es die Diogenes-Anekdoten suggerieren.<br />

Vielmehr verhielt sich der Kynismus zu den großen<br />

Philosophenschulen ähnlich wie die Mystik zu den dogmatischen Religionen.<br />

Das erklärt auch seine Zählebigkeit. Über 500 Jahre lang zogen<br />

kynische Wanderphilosophen (und Wanderphilosophinnen), die das<br />

einfache, alternative Leben predigten, durch die antike Welt. Ihre einheitliche<br />

Tracht, ein abgetragener Wollmantel, der auch als Schlafsack<br />

diente, wurde zum Markenzeichen. Mancher Kyniker wird mehr Hippie<br />

als Philosoph gewesen sein. Scharlatane und Schnorrer missbrauchten<br />

den altehrwürdigen Namen. Aber die Bewegung fing auch<br />

Menschen auf, die aus einem echten spirituellen Bedürfnis der etablierten<br />

Gesellschaft den Rücken samt Rucksack kehren wollten. Und Hunger,<br />

Heimatlosigkeit sowie Nächte unterm Sternenzelt bilden<br />

bekanntlich einen guten Humus <strong>für</strong> das zarte Pflänzchen Spiritualität.<br />

Der letzte namhafte Kyniker, ein gewisser Peregrinus (d.h. »der Heimatlose«)<br />

sprang anlässlich der olympischen Spiele 167 n. Chr. zum<br />

Beweis seiner totalen Selbstüberwindung, von Tausenden bejammert<br />

– 85 –

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!