Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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im Schwitzkasten, zumal nach einem Aufguss, so viel länger als die erste<br />
Minute?<br />
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Viel, viel älter als das Stundenglas ist die Sonnenuhr. Anaximander<br />
von Milet soll um 550 v. Chr. das erste abendländische Exemplar gebaut<br />
haben, aber wahrscheinlich richteten sich bereits die Schichtwechsel<br />
beim Bau der Pyramiden nach dem gnomon, dem senkrechten<br />
Schattenstab. Auch die Wasseruhr – sie funktioniert nach dem Prinzip<br />
des tropfenden Wasserhahns – ist eine relativ frühe Erfindung. Die<br />
Chinesen der Sung-Dynastie, Zeitgenossen der Kreuzritter, bauten<br />
haushohe, plätschernde Wunderwerke der Zeitmessung. Die Herrschaft<br />
der mechanischen Uhren begann erst im Spätmittelalter. Ein wichtiger<br />
Grund <strong>für</strong> das wachsende Interesse an der exakten Zeit waren Klosterregeln,<br />
die Gebete zu bestimmten Stunden vorschrieben. Woher sollten<br />
die Brüder an einem finsteren Wintermorgen wissen, wann sie ihre<br />
Laudes anzustimmen hatten? Pünktlichkeit wurde ein Gebot, und wer<br />
verschlief, kam nicht in den Himmel.<br />
Die Geschichte der Uhr ist auch eine Geschichte der Miniaturisierung.<br />
Das urtümliche Räderwerk, das Mitte des 14. Jahrhunderts im<br />
Straßburger Münster eingebaut wurde, war noch knapp zwölf Meter<br />
hoch. Im Hausflur meiner Großeltern ticktackte eine imposante Standuhr,<br />
die mich immer an den Wolf und das siebente Geißlein erinnerte.<br />
In der Digitaluhr, die ich am Handgelenk trage, misst angeblich ein<br />
unter Strom gesetztes Quarzkristall die Zeit. Ein 133Cäsium-Isotop schwingt, wie ich mir habe sagen lassen, exakt 9 192 631 770 mal pro<br />
Sekunde, was die Fehlertoleranz der Atomuhr auf eine Sekunde in dreihundert<br />
Jahren reduziert.<br />
Die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen: Vor dreihundert Jahren<br />
ließ man sich noch vom Hahnenschrei wecken und ging mit den Hühnern<br />
zu Bett. Die Feldarbeit wurde unterbrochen, wenn die Sonne über<br />
dem Kirchturm stand. Wollte man am Abend noch ein wenig im neuesten<br />
Schäferroman schmökern, so sagte man sich aus Sparsamkeit:<br />
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