Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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Rehbein hielt uns eine Predigt. Über Ehrlichkeit, über Mut, und<br />
über die Verderbtheit des Lügners. Gott sehe alles. Die Lüge sei vom<br />
Teufel, wie ja schon dessen ursprünglicher Name diabolus, der »Verleumder«,<br />
beweise. Und wir dürften das achte Gebot nicht vergessen:<br />
»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Anschließend<br />
ging er durch die Reihen, blickte einem nach dem anderen<br />
inquisitorisch in die Augen und fragte: »Warst du das?« Offenbar glaubte<br />
er, der oder die Schuldige werde unter seinem Blick zusammenbrechen.<br />
Oder doch wenigstens rot anlaufen, die Antwort herausstottern,<br />
die Augen senken.<br />
»Nein«, sagte ich.<br />
»Nein«, sagten der Reihe nach alle anderen. Keiner brach zusammen.<br />
Keinem wuchs eine lange Nase. Jetzt stand der Großinquisitor vor Sabine<br />
»Biene« Sandmann. »Warst du das?«<br />
Biene hielt seinem Blick stand und antwortete: »Nein.«<br />
Er lächelte diabolisch und fragte: »Wirklich nicht? Ich kenn' doch<br />
deine Schrift! Sag' die Wahrheit!« (Fortsetzung folgt.)<br />
�<br />
Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Auch Betrunkene schlucken<br />
Erkenntnisse, die sie in vino gefunden haben, nicht stillschweigend hinunter.<br />
Was nicht unbedingt <strong>für</strong> die Wahrheit spricht. Die Wahrheit sagen,<br />
das kann jedes Kind, jeder Idiot, jeder Wermutbruder. Um gut zu<br />
lügen, bedarf es der Intelligenz, der Phantasie und einer gewissen Menschenkenntnis.<br />
Nun ist die Lüge selbst natürlich nicht wahrhaftig: Sie<br />
tarnt ihren wahren Charakter durch allerlei Euphemismen: Kompliment,<br />
Make-up, Werbung, Höflichkeit, Maskerade, Schauspiel, Takt,<br />
Mode, Kultur, Romantik – alles Lüge, alles make-believe und fauler<br />
Zauber, alles Illusion und Vorspiegelung falscher Tatsachen. »Aber der<br />
Kaiser ist ja nackt!« ruft das Kind im Märchen. Das Kind braucht dringend<br />
einen Therapeuten, damit es lernt, worauf es im wirklichen Leben<br />
ankommt: nicht auf die Wahrheit, sondern auf die gesellschaftsfähige<br />
Lüge. Und dass das Glück keine Frucht vom Baum der Erkenntnis ist.<br />
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