Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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darf, weil sie unter dem besonderen Schutz der Götter stehen oder gar<br />
deren Inkarnationen sind: Katze und Krokodil im alten Ägypten, der<br />
Kondor bei den Indios oder die sprichwörtliche heilige Kuh der Hindus.<br />
Man muss schon sehr egalitär eingestellt sein, wenn man einem<br />
Elefanten die gleiche Würde zuspricht wie einer Zecke.<br />
Und doch gibt es Menschen, die genau dies tun, ja, die sogar noch<br />
einen Schritt weitergehen und behaupten: »Alle Geschöpfe sind gleich.«<br />
Die Rede ist von der uralten Religion des indischen Jainismus. Den<br />
strenggläubigen Jaina-Mönch erkennt man daran, dass er beim Gehen<br />
den Boden vor seinen Füßen mit einem Besen kehrt, um auch ja keinen<br />
Käfer zu zertreten. Denn in jedem Lebewesen wohnt eine göttliche<br />
Seele, und die Seelen wandern von Existenz zu Existenz. Es ist zumindest<br />
ein interessantes Gedankenexperiment: Die Spinne auf meinem<br />
Balkon war vielleicht in ihrem vorherigen Leben Greta Garbo, und in<br />
meinem nächsten Leben wird sie vielleicht meine achtbeinige Großtante<br />
gewesen sein.<br />
�<br />
Obwohl der Ruf nach Gleichheit doch so gern erhoben wird, hat<br />
sich der Jainismus bei uns nicht recht durchsetzen können. Selbst in der<br />
sozialistischen Literatur – kein Aufruf zur Solidarität mit den Arbeitsbienen.<br />
Überhaupt: Fällt es nicht auf, dass Gleichheit fast immer nur in<br />
eine Richtung gefordert wird, nämlich »nach oben«? Die schwachen<br />
Melier verlangten Gleichheit mit den starken Athenern, die französischen<br />
Sansculotten verlangten Gleichheit mit Adel und Klerus, die<br />
Frauen verlangen Gleichheit mit den Männern. Gleichheit ist die klassische<br />
Forderung der Armen und Schwachen – doch selten, auffällig<br />
selten in Beziehung auf die noch Ärmeren, noch Schwächeren. Es stellt<br />
sich also die Frage, ob »Gleichheit!« im politischen Raum nicht ein gut<br />
getarnter Kampfbegriff ist, der im Klartext »Mehr!« bedeutet. Vielleicht<br />
sollte man »Liberté, égalité, fraternité!« so übersetzen: »Mehr Macht,<br />
mehr Geld, mehr Spaß <strong>für</strong> mich und meine Freunde!«<br />
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