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Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

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verwahrlost und körperlich wie geistig um Jahre zurückgeblieben. Als<br />

die Hintergründe ans Licht kamen, war fassungsloses Entsetzen und<br />

Mitleid die einhellige Reaktion. »Genie« (d.h. »Kobold«) – so wurde<br />

das Kind von den Sozialarbeiterinnen genannt – hatte zwölf Jahre lang,<br />

von seinem geistesgestörten Vater auf einen Klosettstuhl gefesselt, allein<br />

in einem abgedunkelten Zimmer vegetiert. Wenn es einen Laut von<br />

sich gab, war es geprügelt oder angebellt worden. Die Mutter – offenbar<br />

selbst ein hilfloses Opfer – hatte »Genie« nicht helfen können. Der<br />

Vater erschoss sich, als er wegen Kindesmisshandlung vor Gericht gestellt<br />

wurde. Für »Genie« kam die Rettung auf jeden Fall zu spät. Offenbar<br />

ist das Gehirn nur in den ersten Lebensjahren bereit, sich <strong>für</strong> die<br />

Sprache zu »öffnen«. Danach ist das Tor versperrt, und alle Anstrengungen<br />

führen nur zu kümmerlichen Fortschritten. Auch der Verstand verharrt<br />

auf einer primitiven Stufe. Vermutlich hätte es »Genie« geholfen,<br />

wenn sie sich während ihrer Gefangenschaft durch Gebärden hätte verständigen<br />

können. Sprache ist nicht an Schallwellen gebunden. Jedes<br />

System von Zeichen, die Informationen transportieren, kann das<br />

Sprachtor öffnen. Das kam der kleinen Helen Keller zugute, die mit<br />

neunzehn Monaten durch eine Meningitis Augenlicht und Gehör verloren<br />

hatte. Sie schien zu einem Leben in Sprachlosigkeit verdammt zu<br />

sein. Doch ihre Hauslehrerin kam auf eine brillante Idee. Sie schrieb<br />

dem Mädchen Wörter in die Handfläche. Helen Keller promovierte<br />

später und wurde als Autorin weltberühmt.<br />

�<br />

Der Kirchenvater Augustinus von Hippo muss ein gusseisernes Gedächtnis<br />

besessen haben. Er behauptet in seinen Memoiren, sich an seine<br />

ersten Sprachlektionen erinnern zu können: »Wann die<br />

Erwachsenen irgendeinen Gegenstand nannten und in Verbindung mit<br />

diesem Laut sich zu etwas hinbewegten, sah ich es und merkte mir, dass<br />

sie mit den ausgesprochenen Lauten jenen Gegenstand benannten, den<br />

sie mir zeigen wollten ... So lernte ich nach und nach die Bedeutung<br />

der Wörter, die ich häufig in unterschiedlichen Sätzen und Stellungen<br />

– 179 –

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