Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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Tod spricht alle Sprachen. Weder körperliche Schönheit noch prachtvolle<br />
Gewänder können ihn blenden. Kein Bestechungsgeld stimmt ihn<br />
um, wenn die Sanduhr abgelaufen ist. Wo er auftritt, ist die menschliche<br />
Komödie beendet. Der Tod weiß – und enthüllt – in jedem Lebewesen<br />
sein Ebenbild, einen namenlosen Rekruten der grauen Armee.<br />
Am Tag der Immobilmachung gelten keine Ausflüchte.<br />
Es sei denn, man hat einen Arzt mit guten Beziehungen.<br />
Es war einmal ein armer Mann, der suchte <strong>für</strong> sein Kind einen Paten.<br />
Da kam ein dürrer Geselle vorbei.<br />
»Wer bist du?« fragte der Mann.<br />
»Ich bin der Tod, der alle gleichmacht.«<br />
Der Mann freute sich: »Du bist der Rechte. Du holst den Reichen<br />
wie den Armen ohne Unterschied, du sollst bei der Taufe meines Jungen<br />
Pate stehen.«<br />
Der Tod war einverstanden.<br />
Als der Junge erwachsen war, führte der Tod ihn in den Wald und<br />
zeigte ihm ein besonderes Kraut. »Ich werde dich zu einem berühmten<br />
Arzt machen. Immer wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, achte<br />
darauf, wo ich stehe. Stehe ich am Kopfende des Bettes, so ist das Leiden<br />
heilbar. Dann gib dem Kranken von dem Kraut ein, und er wird<br />
gesund. Stehe ich aber am Fußende, so gibt es keine Rettung.« Und<br />
wirklich wurde der junge Mann rasch wegen seiner unfehlbaren Prognosen<br />
berühmt. Eines Tages nun erkrankte die Tochter des Königs, und<br />
der Tod stand am Fußende des Bettes. Da drehte der Arzt kurzerhand<br />
das Bett um 180°, und schon bald ging es der schönen Prinzessin besser.<br />
�<br />
Heutzutage nennt man so etwas Intensivmedizin. Um jeden Rest von<br />
Leben wird mit allen zur Verfügung stehenden Apparaten, mit allen<br />
Körperkräften, mit einem Höchstmaß an seelischer Energie gerungen.<br />
Kampf bis zur letzten Blutkonserve. Manchmal bis zur Absurdität. Der<br />
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