Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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visionen, Lösung der Seele aus dem Körper – die Phänomene des Lazarus-Syndroms<br />
treten auch unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen<br />
auf. Im Augenblick des Sterbens aber wird der Körper von<br />
Stresshormonen überflutet. Wir alle kennen den Realismus von Fieberträumen.<br />
Befindet man sich auf der Intensivstation, ist man gewöhnlich<br />
mit Medikamenten abgefüllt. Sauerstoffmangel im Gehirn, wie er<br />
auch bei Herzversagen auftritt, führt zu Wahnvorstellungen. Es wäre<br />
ein Wunder, wenn der Mensch im Augenblick des Ablebens klar im<br />
Kopf bliebe.<br />
Die ganze faszinierende Gegenwelt der Nah-Todeserlebnisse wäre<br />
demnach nur eine Fehlfunktion des Gehirns, ein Amoklauf des limbischen<br />
Systems, ein letztes Feuerwerk, das der Körper auf Befehl von<br />
Gevatter Tod abbrennt, um der Seele den Blick in den Abgrund zu ersparen?<br />
Jedenfalls verändern Begegnungen mit dem eigenen Tod das spätere<br />
Leben nachhaltig. »Bei vielen der Befragten blieben eine ausgeprägte<br />
Gelassenheit, Demut und Staunen zurück, ebenso ein erhöhtes Bewusstsein<br />
des Todes, das jedoch nicht als niederdrückend empfunden<br />
wurde, sondern im Gegenteil den Wert des Lebens noch steigerte.«<br />
Sterben scheint wie ein Crash-Kurs in Weisheit zu wirken. Glücklich,<br />
wer aus dem Abgrund zurückgeholt wird. An die Stelle von Lebenssucht<br />
und Todesangst treten »Lebensfreude, weniger Sorgen um materielle<br />
Aspekte des Lebens, gewachsenes Selbstvertrauen,<br />
Unabhängigkeit und Zielstrebigkeit, intensive Wünsche nach Alleinsein<br />
und Meditation, Freude an der Natur sowie Toleranz und Mitgefühl <strong>für</strong><br />
andere.«<br />
Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Die Welt, in die ich nach<br />
meinen Herzoperationen zurückkehrte, war eine andere als die, aus der<br />
ich gekommen war. Sie sieht ähnlich aus, aber sie ist nun getränkt mit<br />
einem Sinn, quasi positiv aufgeladen, sie »leuchtet« von innen. Es ist<br />
das warme, wunderbare Licht der puren Existenz.<br />
Wir auch. Ich sehe mich um und erblicke Menschen (oder, wie die<br />
alten Dichter sagten, Sterbliche): Männer und Frauen, Schulkinder und<br />
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